Hallo Vienne,
ich habe Deinen Eintrag gerade gelesen. Vieles hat mich tatsächlich an meine Familie erinnert. Auch bei uns war es nicht erwünscht, eine Persönlichkeit zu entwickeln. Auch ich war das schwarze Schaf der Familie. Meine Schwester ist immer besser mit meiner Mutter zurecht gekommen, sie war immer sehr anpassungsfähig und hat die ewigen Nörgeleien meine Mutter einfach weggesteckt. Ich habe mich schon als Kind immer aufgelehnt, wenn etwas ungerecht war, wenn meine Mutter wegen eine Lappalie (Hausschuhe nicht ordentlich nebeneinander gestellt, eine benutzte Tasse oder ein Glas dann in die Küche gebracht, wenn sie gespült hatte, eine Tür nicht leise genug zugemacht) ausgerastet ist. Was ich hier schreibe, ist keine Übertreibung, eine solche Sache hat minutenlange Schreitiraden voller Beschimpfungen ausgelöst. „Schlampe“, „Du kommst ins Heim“, „D*******“ und vieles mehr. Wegen Hausschuhen, die nicht parallel nebeneinander aufgereiht waren. Welches sechs- oder siebenjährige Kind hat für so was ein Auge??
Meine Schwester hat auf diesen Drill besser reagiert, sie hat es mit einer Mischung aus Freundlichkeit und Unterwerfung geschafft, meine Mutter zu besänftigen. Ich nicht. Ich konnte nie verbergen, wie absurd ich es fand, wegen Kleinigkeiten, die man zudem auch in einem normalen Tonfall sagen kann so hemmungslos auszurasten. Ich erinnere mich gerade an eine Situation erinnern, da ist meiner Schwester ein „schreckliches Unglück“ passiert: Sie hat eine leere Saftpackung weggeworfen und ein paar Tropfen (es waren nur sehr wenige, man konnte sie zählen) sind auf den Boden gekommen. (Wir waren kleine Kinder). Ich kam von der Schule nachhause, meine Mutter steht mit Putzeimer in der Küche, mit knallrotem Kopf und schreit mich aus voller Kehle an. Als ich sage, ich weiß gar nicht wovon sie redet, ist sie noch mehr ausgerastet, weil ich keine Verantwortung für meine „Schweinereien“ übernehme. Zur Erinnerung, es handelte sich hier um ein paar kleine Tropfen roten Traubensaft die man mit einem Lappen ein bis zwei Sekunden weggewischt hat. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, ich könnte dutzende dieser Geschichten erzählen. Die haben sich in meinem Kopf festgefressen und egal wie oft ich sie erzähle, sie lassen mich nicht los.
Da gebe ich Dir recht, Vienne, wenn Du schreibst, dass solche Sachen fast noch schlimmer sind als körperliche Gewalt, denn sie machen dich verrückt. Die ersten 19 Jahre meines Lebens haben so ausgesehen. Es war schrecklich. Als ich ausgezogen bin, hatte ich abends nach der Uni panische Angst, nach Hause zu gehen, obwohl ich alleine wohnte. Bis heute, acht Jahre später habe ich immer noch gelegentlich Anflüge von Dankbarkeit und Freude, dass ich meine eigene Wohnung habe.
Dieser Psychoterror hat solche Spuren in meiner Seele hinterlassen. Das ist genau das was Du als das Paket bezeichnest, das uns unsere Eltern aufgebürdet haben. (Wobei es hier um meine Mutter geht, meinen Vater liebe ich sehr, er war nur fast nie zuhause, er hat mich nie geschlagen und unsere Streitereien waren normal und niemals so bösartig). Es ist so schwer, sich normal zu verhalten. Ich entschuldige mich manchmal so übertrieben für Kleinigkeiten und merke dann, dass andere Menschen sie überhaupt nicht schlimm finden.
Wenn ich richtig verstehe, wohnst Du im Haus Deiner Eltern. Das stelle ich mir schrecklich vor, so ganz ohne räumliche Distanz. Es ist sicherlich eine gute Idee, einen Umzug zu planen. Deine Eltern können ja jederzeit an Dich herantreten, Dich anmotzen usw. Meine Mutter kann mich nur telefonisch und per Mail erreichen. Da bin ich vorgewarnt und habe ihre vor Gift triefende Stimme nicht im Ohr.
Eines würde mich sehr interessieren: Warum wohnst Du im gleichen Haus wie Deine Eltern? Damit meine ich: Warum ist es nie zum Bruch zwischen Euch gekommen? Wie hast Du es geschafft, Dir all das gefallen zu lassen?
[FONT="]Liebe Grüße, N.[/FONT]