Zum Verhältnis der beiden Brüder fiel mir das folgende schöne jüdische Märchen wieder ein, das vor Jahrzehnten auch der Pfarrer meiner Heimatgemeinde mal in eine Predigt eingebaut hatte. Es zeigt, wie Menschen - unabhängig vom Familienstand - in gegenseitigem Respekt und in Nächstenliebe idealerweise miteinander umgehen sollten. Sich in die Lebenssituation des anderen versetzen, auch wenn diese von der eigenen völlig abweicht, und nicht nur an sich selbst und seine eigenen Befindlichkeiten denken. Ich finde, das Märchen passt auch sehr gut in den Advent. Ich habe es im Internet recherchiert und bin zum Glück auch fündig geworden:
Das Feld der Bruderliebe
Ein Vater ließ seinen zwei Söhnen ein Getreidefeld als Erbstück zurück. Sie teilten das Feld ehrlich unter sich. Der eine Sohn war reich und unverheiratet, der andere arm und mit Kindern gesegnet.
Einmal, zur Zeit der Getreideernte, lag der Reiche in der Nacht auf seinem Lager und sagte zu sich: »Ich bin reich; wozu brauche ich die Garben? Mein Bruder ist arm, und das einzige, was er für seine Familie braucht, sind die Garben.« Er stand vom Bette auf, ging auf seinen Feldanteil, nahm eine ganze Menge von Garben und brachte sie auf das Feld des Bruders.
In derselben Nacht dachte sein Bruder: »Mein Bruder hat keine Frau und keine Kinder. Das einzige, woran er Freude hat, ist sein Reichtum. Ich will ihn vermehren.« Er stand von seinem Lager auf, ging auf seinen Feldanteil brachte seine Garben auf das Feld seines Bruders.
Als beide in der Frühe ihr Feld besuchten, staunten sie darüber, dass das Getreide nicht weniger geworden war. Ihr Staunen nahm kein Ende. Auch in den folgenden Nächten taten sie dasselbe. Jeder brachte seine Garben auf das Feld des anderen. Und da sie jedem Morgen merkten, dass nichts weniger geworden war, waren sie davon überzeugt, dass der Himmel sie für ihre Güte beschenkt hatte.
Aber in einer Nacht geschah es, dass beide Brüder, die Hände voller Garben, sich auf ihrem Wege begegneten. Da erkannten sie, was geschehen war, sie fielen einander um den Hals und küssten sich. Da hörten sie eine Stimme vom Himmel: „Dieser Platz, auf dem sich so viel Bruderliebe offenbart hat, soll würdig sein, dass auf ihm mein Tempel errichtet werden soll - der Tempel der Bruderliebe." Und tatsächlich wählte König Salomon diesen Platz für den Tempelbau.
Jüdisches Märchen, aus: Israel Zwi Kanner (Hg.), Jüdische Märchen. Frankfurt a. M. 1976