Ich glaube, das mit dem Krieg, das ist noch mal ein Thema für sich, das für uns nicht so einfach zu verstehen ist. Zum Glück! Und ich kann nur hoffen, daß das so bleibt. Denn verstehen kann das wahrscheinlich nur der, der selbst einen Krieg erlebt hat.
Aber unabhängig davon, ob es nun am Krieg liegt oder an der Erziehung oder ob es einfach so in ihrer Natur liegt: Daß meine Mutter nicht feinfühlig ist, war mir schon immer klar. Bei dem dritten Link von Cucaracha heißt es:
"Konzept der Feinfühligkeit
Als Mitarbeiterin von John Bowlby untersuchte Mary Ainsworth die Bedeutung des feinfühligen Pflegeverhaltens der Bindungsperson (Ainsworth, 1977). Sie fand heraus, dass Säuglinge sich an diejenige Pflegeperson binden, die ihre Bedürfnisse in einer feinfühligen Weise beantworten. Dies bedeutet, dass die Pflegeperson die Signale des Säuglings richtig wahrnimmt und sie ohne Verzerrungen durch eigene Bedürfnisse und Wünsche auch richtig interpretiert. Weiterhin muss die Pflegeperson die Bedürfnisse angemessen und prompt - entsprechend dem jeweiligen Alter des Säuglings - beantworten."
Demnach wären feinfühlige Menschen die besseren Eltern. Das klingt völlig simpel, ist es aber nicht. Meine Mutter ist nach außen hin ein sehr netter Mensch. Sich in andere Menschen reinversetzen; zu erspüren, was ein anderer fühlt; zu merken, wenn sie jemanden verletzt, das kann sie nicht. Und das war mir eigentlich schon immer klar. Bloß, daß wir das eher als Stärke betrachtet haben denn als Schwäche. Dadurch daß sie nicht so sensibel ist, kann sie andere Dinge besser. Äußerlichkeiten, also zum Beispiel wie ein Mensch gekleidet ist, das nimmt sie leichter wahr als ich. Gefühle zu haben bedeutet für meine Mutter nicht in sich hineinzuhorchen, was sie empfindet, sondern es bedeutet für sie, zu allen Menschen nett und höflich zu sein. Das ist ein Menschentyp, den ich bislang eigentlich als extravertiert bezeichnet hätte. Ich bin mir aber nicht sicher.
In "Am Anfang war Erziehung" von Alice Miller habe ich auf Seite 293 eine sehr interessante Passage gefunden:
"Jedes Leben und jede Kindheit sind reich an Frustrationen, das ist gar nicht anders denkbar, denn auch die beste Mutter kann nicht alle Wünsche und Bedürfnisse ihres Kindes befriedigen. Aber nicht das Leiden an Frustrationen führt zur psychischen Krankheit, sondern das Verbot, dieses Leiden, den Schmerz über die erlittenen Frustrationen zu erleben und zu artikulieren, das von den Eltern ausgeht und das meistens zum Ziel hat, die Abwehr der Eltern zu schönen. Der Erwachsene darf mit Gott, mit dem Schicksal, mit den Behörden, mit der Gesellschaft hadern, wenn man ihn betrügt, übergeht, ungerecht bestraft, überfordert, anlügt, aber das Kind darf mit seinen Göttern, den Eltern und Erziehern, nicht hadern. Es darf seine Frustrationen auf keinen Fall zum Ausdruck bringen, muß die Gefühlsreaktionen verdrängen oder verleugnen, die in ihm bis ins erwachsene Alter wuchern, um dort eine bereits transformierte Abfuhr zu erfahren. Die Formen dieser Abfuhr reichen von der Verfolgung der eigenen Kinder mit Hilfe der Erziehung über alle möglichen Grade psychischer Erkrankungen, über Sucht, Kriminalität bis zum Selbstmord."
Hier möchte ich noch mal auf die Geschichte zurückkommen, die ich in Post 276 erzählt habe. Ich bin der Meinung, daß in einer intakten Mutter-Kind-Beziehung die Mutter es ihrer Tochter hätte an der Nasenspitze ansehen müssen, daß etwas nicht stimmt. Die Tatsache, daß die Tochter dies alles über sich ergehen läßt, zeigt, daß diese zu diesem Zeitpunkt bereits gelernt hatte, ihre eigenen Gefühle zugunsten der Gefühle der Mutter zu unterdrücken. In einer intakten Mutter-Kind-Beziehung wäre die Tochter womöglich in Tränen ausgebrochen oder hätte sonst irgendwie auf sich aufmerksam gemacht. Nicht weil die Mutter aufgrund einer Verwechslung das eigene Kind beleidigt, entwickelt dieses Kind Verhaltensstörungen und Depressionen. Sondern weil es weiß, daß es der Mutter zuliebe die Wahrheit nicht ans Licht bringen darf.