Es ist auch schwer, so etwas zu akzeptieren.
Weißt du, als meine Eltern starben, war ich vorbereitet und konnte mich allmählich von ihnen verabschieden. Mein Vater starb 1993 an Lungenkrebs, meine Mutter 2011, vier Monate nach einem schweren Schlaganfall, nach dem sie absolut nichts mehr konnte und nur noch im Pflegeheim gepflegt werden konnte. Das war alles schlimm genug, zumal ich auch noch eine psychisch schwerkranke und komplett krankheitsuneinsichtige Schwester habe.
Aber den Tod meines Partners im Mai letzten Jahres habe ich als noch viel schlimmer empfunden, weil alles so schnell ging innerhalb einer Woche. Er starb plötzlich und unerwarte, zwei Monate vor seinem 61. Geburtstag. Noch eine Woche vorher hatten wir sonntags einen kleinen Ausflug unternommen, bei dem es ihm normal gut ging. Ab Montag dann die Beschwerden, bei denen ich zwar schon meinte, er müsse jetzt mal endlich zum Arzt gehen, aber auch nicht ernsthaft mit einem tödlichen Verlauf gerechnet hatte. Ich dachte auch, wenn es jemandem wirklich schlecht geht, dann hat er doch selber so viel Angst vor dem Tod, dass er sich schnellstens zum Arzt oder ins KH fahren lässt und nicht noch tagelang überlegt und nach dem optimalen Arzt sucht.
Und seither laufen bei mir auch phasenweise immer wieder diese Grübeleien ab:
Warum ist er in den elf Jahren, die wir zusammen waren, nie zum Arzt gegangen?
Warum war er nicht mal bereit, seinen Blutdruck mit meinem Gerät zu messen (ich bin selber wegen Bluthochdrucks in ärztlicher Behandlung und nehme auch Blutdrucksenker, mit denen ich bis jetzt gut eingestellt bin)?
Warum war ich genau in der Phase (und auch schon seit 2020) beruflich derart gestresst und belastet, dass ich vielleicht auch deshalb den Ernst der Lage verkannt und teils auch noch ungehalten reagiert habe?
Warum hatte er sich in den ganzen Jahren oft hypochonderhaft verhalten und über Wehwehchen wie Verstopfung geklagt, ohne zum Arzt zu gehen? Denn das dürfte mit der Hauptgrund dafür gewesen sein, dass ich die Gefahr vor seinem Tod nicht mehr richtig einschätzen konnte, zumal er es immer noch ablehnte, dass ich einen Arzt rief oder ihn in die Notaufnahme des nahegelegenen KH fuhr?
Warum nahm die einzige Ärztin, zu der zu gehen er bereit gewesen wäre, ausgerechnet zu dem Zeitpunkt keine neuen, ortsfremden Patienten mehr an?
Warum hatte sich ein netter Rettungssanitäter, der hier im Hause wohnte, genau zu dem Zeitpunkt wieder mit seiner Frau versöhnt und war faktisch nicht mehr hier, sodass ich auch ihn nicht um Rat fragen konnte?
Warum war ein Kontakt, den ich zu einer ehemaligen Schulfreundin hatte, die selber Ärztin ist und sich z.B. auch mit Thrombosen auskennt, wieder eingeschlafen wegen ihres Desinteresses? Denn sie wohnt nur 25 km von hier entfernt - hätte sich die Freundschaft wiederbeleben lassen, hätte ich sie garantiert angerufen und um Rat gebeten.
Fragen über Fragen.
Aber letztlich muss ich mich auch fragen, warum mein Partnet sich nicht in ärztliche Behandlung begeben hat. Er war doch selbst wenige Stunden vor seinem Tod noch bei klarem Bewusstsein. Nur er steckte doch in seinem Körper und konnte beurteilen, wie schlecht er sich tatsächlich fühlte. Er hatte sogar u.a. eine Ausbildung als Heilpraktiker abgeschlossen, da hat man doch auch etwas Ahnung von medizinischen Dingen. An den Tagen kurz vor seinen, an denen er bei mir in der Wohnung war, hatte ich ihm sogar vorsichtshalber einen Geldbetrag hier gelassen, damit er sich, während ich bei der Arbeit war, ggf. mit dem Taxi in eine Arztpraxis oder ins KH hätte fahren lassen können. Aber er machte es nicht. Er ließ sich über eine Internetapotheke Schmerztabletten ins Haus schicken und surfte im Internet offenbar nach dem "idealen" Arzt. Und wenn ich abends von der Arbeit nach Hause kam und fragte: "Hast du denn jetzt einen Arzttermin vereinbart?", hieß es jedes Mal: "Nein." Deshalb hatten wir an dem Donnerstag vor seinem Tod ja sogar noch Krach.
Und dann denke ich auch wieder:
Warum werfe ich mir immer wieder vor, die akute Lebensgefahr nicht erkannt zu haben? Er als Betroffener, der doch am besten wissen musste, welche Beschwerden er hatte und wie intensiv sie waren, der auch auch durchaus eine gewisse medizinische Vorbildung hatte, hat sie doch selber nicht erkannt. Denn sonst hätte er sich doch bestimmt zu einem Arzt oder ins KH bringen lassen trotz seiner Vorbehalte und Ängste. Klar, da hätte er auch sterben können. Ohne medizinische Behandlung aber erst recht, wie man dann ja auch gesehen hat. Und er wusste ja auch , woran und in welchem Alter sein Vater gestorben war, und ich hatte es ihm an den Tagen vor seinem Tod auch noch mehrfach zu bedenken gegeben.
Aber nur, weil man vom Verstand her etwas einsieht, ist man vom Gefühl her noch lange nicht damit fertig.
Ich bin auch nur ein Mensch und habe mich vor seinem Tod nicht optimal und nicht perfekt verhalten. Ich habe die Gefahr verkannt. Mein Partner hat sich aber in der Situation auch selber nicht optimal verhalten.
Und im KH arbeiten eben auch nur Menschen, die nicht rund um die Uhr einen Patienten überwachen können, bei dem nach einer gelungenen Routine-OP vielleicht nur eine 1%ige Wahrscheinlichkeit für Komplikationen besteht, die zum Tode führen können.