Hallo Blümchen,
ein Nachteil des Erwachsenwerdens ist, dass man seine Eltern aus neuen Blickwinkeln sehen lernen muss und dabei fallen einem auch Dinge auf, die einem als Kind vielleicht nicht so sehr aufgefallen sind. Dein Vater hat Schwächen und Fehler, ganz offensichtlich. Und Du hältst nun ein Brenn- oder Vergrößerungsglas auf diese Stellen und urteilst darüber. Ja, kannst Du machen und ist nachvollziehbar. Es ist auch sehr verständlich, dass Du noch immer sauer mit ihm bist, dass er Deine Mutter und damit auch ein wenig Dich betrogen hat und nun wendet er sich dieser anderen Frau zu. Auch das ist aus der Sicht eines Kindes ziemlich schräg. Ich kann das aus eigener Erfahrung gut nachvollziehen.
Aber nun möchte ich Dir versuchen ein Argument nahezubringen, dass Du womöglich erst in 20-30 Jahren besser nachvollziehen kannst: wenn man 50 oder die 60 Jahre hinter sich hat, verändern sich so manche Dinge. Manches fällt schwerer, manches braucht mehr Kraft. Und dann stellt man auch immer mal wieder fest, dass man gerne das eine tun würde, es aber nicht mehr kann. Soll heißen: ja, seinem Kind zu helfen sollte eigentlich selbstverständlich sein, aber mal ehrlich: Du schiebst eine ziemliche "Bugwelle" an Vorwürfen, Forderungen und Erwartungen vor Dir her, die einen ganz schön überfordern kann. Und nun steht er vor dem Problem, dass er Dir helfen und "Raum" für Dich schaffen soll und gleichzeitig ist da die andere Frau, die mit "Kinderkram" (Ich weiß, Deine OP ist kein Kinderkram) vielleicht nicht mehr viel am Hut hat. Vielleicht weiß er einfach nicht, wie er das lösen soll?
Selbst wenn Du "nur" oben im Zimmer liegst, verändert das das "Betriebsklima", denn ihr seid euch nicht mehr gewohnt. Deine als Kind in Anspruch genommene Selbstverständlichkeit gibt es nicht mehr, auch wenn es "Dein" Zimmer noch gibt. Auch das muss man als Kind erst einmal akzeptieren können und es tut zumeist immer und immer wieder weh.
Wie ich das sehe, hast Du Dich gerade in einem Gefühlschaos aus alten und neuen Gefühlen verstrickt und bis davon verletzt. Das ist Dein gutes Recht und steht Dir zu. Was Dir aber nicht mehr zusteht ist, dass Du Deinen Vater noch immer für sehr viel verantwortlich machst und irgendwie verlangst, dass er es wieder gut machen soll. Das ist einfach nicht möglich und übersteigt wohl auch seine Möglichkeiten. Du bist inzwischen erwachsen und wenn Dir etwas an Deinem Vater nicht passt, dann solltest Du als erwachsener Mensch erst einmal fragen, ob er Deine Kritik überhaupt hören will. Ein Anrecht darauf hast Du nicht.
Wenn Du Dich mit eurer Vergangenheit schwer tust, dann ist es nach so vielen Jahren Deine Aufgabe, für Dich und nur für Dich eine Lösung zu schaffen, wie Du Menschen verzeihen und in Dir aufräumen kannst. Natürlich wäre es vielleicht schön, wenn Dir Dein Vater dabei helfen könnte, aber was ist, wenn er dies nicht kann? Welchen Sinn macht es, von jemandem etwas zu fordern, das ihm nicht möglich ist? So traurig und schade das auch sein mag?
Ich habe den Eindruck, dass aus Dir noch immer sehr das enttäuscht und verletzte Kind spricht und dass es so langsam an der Zeit ist, dass Du noch etwas erwachsener wirst und mit Dingen abschließt, die zwar Deine Vergangenheit sind, aber die in der Gegenwart nichts mehr zu suchen haben. Ja, das hört sich vielleicht hart an, kann aber sehr liebevoll sein, Dir selbst und anderen gegenüber. Dir selbst gegenüber ist es deshalb liebevoll, weil Du Dich nicht mehr mit einer Lösung abquälen musst, die es einfach nicht gibt. In dem Du es als Vergangenheit anerkennst, musst Du es nicht vergessen, aber Du kannst es wie ein Papierschiffchen in den Fluss der Zeit setzen und davon treiben lassen. Es muss nicht mehr so wichtig sein. Es ist nur so wichtig, wie Du es wichtig nimmst.
In dem Du von Deinem Groll Abstand nimmst und Deinen Vater zu sehen beginnst, wie er nun einmal ist, mit all seinen Schwächen und Stärken, könnt ihr wieder eine Beziehung aufbauen, die heute tragfähig und sinnvoll ist und ihre Grenzen hat, auch wenn Dir diese Grenzen vielleicht nicht passen.
Du bist heute ein erwachsener und eigenständiger Mensch und nicht mehr primär sein Kind. Ja, das verlagert die Verantwortung für Dich und Deine Gefühle ganz erheblich mehr auf Deine Seite. Ich wünsche Dir von Herzen, dass Du dieses Gefühlschaos in Dir Schritt für Schritt auflösen und noch mehr in Dein erwachsenes Leben finden kannst, denn dann kannst Du besser sehen, wie sehr Dein Mitgefühl und Verständnis auf dieser Welt gebraucht wird und helfen kann.
Dein Vater geht dem Ende seines Lebens zu und mag es auch noch 30 Jahre dauern. Dieser Alterungsprozess verändert einen und nur wenig davon ist herzlich willkommen. Das soll nicht Dein Mitleid erregen. Es soll Dir etwas die Augen öffnen und Dich vielleicht etwas milder stimmen, damit du erkennen kannst, dass hinter mancher Wut auch die Angst versteckt ist, was alles noch auf Dich zukommt und wie Du mit Deinem Leben zurecht kommst und kommen wirst.
Du bist alt genug, um hinter die Kulissen zu schauen und dass so manches nur noch von einem "Klebeband" zusammen gehalten wird, weil mehr nicht mehr möglich war und ist. Schätzt Du nun die Absicht hinter dem Klebeband und das Klebeband oder prangerst Du nur das Provisorium an? Wir sind alle Menschen und können nur tun, was uns möglich ist. Manchmal reicht das nicht, das ist wahr. Und dann entscheiden Du und ich und alle anderen, worauf wir unseren Focus legen und was aus unseren Entscheidungen entstehen kann, in dem wir darauf achten, was unsere Basis ist: ist es Wut, sind es Enttäuschungen? Oder sind es Verständnis, Vergebung, Hoffnung und klarsichtiges Vertrauen darauf, was sein kann?
Kümmere Dich um Deine inneren und äußeren Verletzungen, das ist wichtig. Ich wünsche Dir dazu alles Gute, denn es steckt noch so viel Gutes in Dir.