Liebe Bijoucat,
ich kann mich in vieles was du schreibst hineinversetzen. Meine Kindheit und Jugend und mein damaliges Verhältnis zu meinen Eltern, war glaub ich dem deinen nicht unähnlich. Auch wenn meine Mutter zum Glück gar nicht dominant ist und ich diesbezüglich keine Probleme habe.
Beim Lesen deines Beitrags, sind mir sehr viele Gedanken durch den Kopf gegangen und ich bin nicht sicher, ob ich das einigermaßen sinnvoll und strukturiert rüberbringen kann. Aber manchmal kommt die Struktur beim Schreiben. Ich versuchs einfach, vielleicht kannst du was damit anfangen.
Eine erste "Schlüsselstelle" in deinem Beitrag, scheint mir Folgendes zu sein:
Dennoch habe ich sie über alle Maßen geliebt und immer das Gefühl gehabt, ich müsste auf sie aufpassen. Ich hatte auch ständig Angst um sie, dass sie z.B. tot sein könnte und mich nicht mehr vom Kindergarten abholen - das sind die frühesten negativen Gedanken, an die ich mich erinnere. Aber auch als Erwachsene habe ich das Gefühl entwickelt, dass ich für sie mit verantwortlich bin, sie nicht los lassen kann...Sie vermittelt mir das irgendwie.
Hier würde ich an deiner Stelle anfangen. Hast du irgendeine Idee, woher dieses Gefühl, aufpassen zu müssen, diese Angst um sie, kam? Ich hoffe, dass ich nicht voreilig bin, wenn ich hier einen Gedanken mit ins Spiel bringe. Ich könnte mir vorstellen, dass diese Angst, die du da gespürt hast, nicht wirklich eine Angst UM sie war. Ich weiß nicht, ob Kinder in dem Alter das überhaupt schon können. War es nicht vielleicht eher einfach die Angst, ohne sie sein zu müssen? Du denkst jetzt vielleicht, wo denn da der Unterschied liegen soll und ich weiß nicht recht, ob ich das erklären kann, was ich meine. Ich vermute, dass die Beziehung zu deiner Mutter immer irgendwie prekär war. Hast du die Beziehung zu deiner Mutter als etwas Verlässliches erlebt? Oder war da immer eine gewisse Unsicherheit? Was sie tun wird? Was sie denkt? Ob sie dich noch liebhat? Kann es sein, dass du vielleicht auch deshalb so ein braver und anständiger Teenager warst, weil unterbewusst immer irgendwie eine Art Angst da war, fallengelassen zu werden, wenn du aus der Reihe tanzt?
Und wenn du schreibst, dass du auch jetzt noch das Gefühl hast, für sie verantwortlich zu sein, ist das dann so, dass du dich auch für ihre Laune verantwortlich fühlst? Verantwortlich dafür, dass sie sich nicht (über dich) ärgern muss. Verantwortlich dafür, dass sie zufrieden ist? Wenn ja, dann zeugt das eben auch genau von dieser prekären Beziehung zu ihr. Und immer bist du diejenige, die darauf achten muss, sie nicht zu reizen, sie nicht zu beleidigen etc.
Jetzt grade fällt mir auf, dass du das an anderer Stelle sogar ziemlich explizit so geschrieben hast:
und sie mit Liebesentzug reagiert, wenn man nicht so spurt...
War das auch als Kind schon so? Liebesentzug, wenn du nicht spurst?
Mein Mann, unsere Tochter, im erweiterten Kreis auch die beiden Halbbrüder aus erster Ehe meines Mannes sind meine "Kernfamilie" und sie haben meine Ursprungsfamilie in der Bedeutung "ersetzt".
An dieser Stelle möchte ich dir kurz rückmelden, dass das auch absolut richtig ist. Und es ist immer problematisch (aber wohl leider häufig der Fall) wenn nicht alle Beteiligten mit der Ablösung von der Ursprungsfamilie klar kommen.
Aber nun mehr zur aktuellen Situation. Du schreibst:
ich würde am Liebsten aber sagen: "Das kann dir doch egal sein...". Würde ich so was sagen, würde ich als "zickig" gelten und - was noch schwieriger ist - meine Mutter schnappt unheimlich gerne ein. Und über dieses "Schuldeinreden" bindet sie mich wiederum. Ich habe dann ein schlechtes Gewissen...
und dann noch:
Ich leide unter dem Abgrenzen, das ich die ganze Zeit irgendwie machen muss. Ich kann doch nicht sagen: "Das geht euch nichts an.", oder? Oder: "Zerbrecht euch den Kopf um euer Zeug." Oder: "Ich bin erwachsen. Das weiß ich alleine. Das kann ich alleine entscheiden." - So etwas denke ich aber immer, wenn ich mit ihnen spreche...
Ich verstehe gut, warum du sowas nicht sagen kannst. Du weißt sehr gut, dass es daraufhin ja nur wieder zum Streit kommen würde. Und dann bliebe dir nichts anderes übrig, als entweder doch wieder nachzugeben, oder es weiter durchzuziehen und immer härter zu werden und abweisender, bis die Situation immer verfahrener wird und es womöglich doch zum Bruch kommt.
Ich finds gut, dass du das offensichtlich nicht möchtest obwohl ich dir andererseits am liebsten zurufen würde: "Sag ihnen, dass sie das nichts angeht! Du hast doch Recht!" Diese ungefragte Einmischung immer weiter hinzunehmen und einfach still weiter drunter leiden, kann nunmal auch keine Lösung sein.
Du hast eigentlich schon selber sehr gut erkannt, was passieren müsste:
Wie schaffe ich es, "los zu kommen"? Mich abzugrenzen? Ohne Groll? Nicht mehr über die alten Sachen nachzudenken?
Es mag Vieles früher falsch gelaufen sein, denn sonderlich glücklich war ich als Kind nicht, erfolgreich ja, aber nicht glücklich. Aber sie haben ihren Job als Eltern sicher so gut gemacht wie sie konnten. Das sehe ich ein. Mir mangelte es aber immer an Vertrauen, Selbstvertrauen und vielleicht doch auch Vertrauen in meine Eltern. Aber das "aufwühlen"? Kann ich das alleine "bearbeiten"?
Das "ohne Groll", ist das entscheidende! Aber du fragst zu Recht, wie! Aber du erkennst auch, dass es sehr viel mit Vertrauen zu tun hat. Wenn ich deine Geschichte lese, scheint mir, dass du eine sehr sehr positive Entwicklung durchgemacht hast. Von dem sozialphobischen Kind, zu einer empathischen Frau, die mitten im Leben steht, die eine harmonische Ehe führt, die eine wunderbare Mutter ist, die dankbar und selbstreflektiert ist. Und ich vermute, dass du auch sonst keine nennenswerten Probleme mehr mit deinen Mitmenschen hast und auf alle ganz offen, selbstbewusst und freundlich wirkst. Aber ich vermute auch, irgendwo, tief in dir drin, steckt trotzdem noch die Angst, nicht zu genügen... Zum Glück durftest inzwischen schon oft die Erfahrung machen, etwas wert zu sein. Nur bei deiner Mutter nicht, bei ihr hast du immer noch das Gefühl, alles richtig machen zu müssen, sie nicht verärgern zu dürfen. Das führt dazu, dass du dich entweder dauernd rechtfertigen musst, oder eben einfach spurst.
Du sehnst dich so sehr nach ihrer Anerkennung, aber möchtest gleichzeitig endlich davon unabhängig sein.
Ich kann dir leider keine konkreten Tipps geben, wie du unabhängiger von ihrer Anerkennung werden kannst. Ich denke, das ist ein sehr individueller Weg, auf dem es vielleicht tatsächlich gut wäre, dich therapeutisch begleiten zu lassen. Allgemein gesagt, geht es wohl nur, indem du innerlich noch stärker wirst. (Das heißt nicht härter!) Dich selber und deine Ansichten etc. mehr wertzuschätzen lernst, auch dann, wenn andere das völlig falsch finden. Es ist (zumindest theoretisch) möglich, seine eigene Position sicher zu vertreten, ohne die Position des anderen abzuwerten. Aber die innere Sicherheit, die man dafür braucht, ist nicht so leicht zu erreichen. Und in manchen Fällen gelingt das vielleicht auch wirklich nur mit einem (vorläufigen) Bruch. Einer "Kontaktpause", wie Nordrheiner so schön gesagt hat.
Ich hoffe, du kannst mit meinem langen Beitrag ein bisschen was anfangen und ich bin dir mit meinen vielen Vermutungen und Spekulationen nicht zu nahe getreten.
Alles Gute und Gruß
M.