Lieber TheCore92,
bitte glaub nicht, dass Du langweilig oder uninteressant bist.
Ich finde es SO toll, dass Du es trotz aller Angst Mal probiert hast, wollte Dir eigentlich noch schreiben
letzte Woche, bin aber nicht dazu gekommen. Schau: wenn Du so lange Zeit so sehr zurückgezogen
warst und so ein starkes und mächtiges Unsicherheitsgefühl in Dir aufgebaut hast, dann ist es ja
logisch, dass Du nicht über Nacht zur extrovertierten Party-Bombe mutieren kannst. Dass dort
bereits Cliquen existieren und schon alleine die Gewohnheit dort dafür sorgt, dass es Außenstehende
offenbar schwer haben, hat ja überhaupt gar nichts mit Deiner Person zu tun. Und dass
Gespräche mit Fremden ins Stocken geraten, das passiert auch sehr selbstbewussten Menschen.
Was ich mir aber selber grundsätzlich dazu denke, ist, dass sich Communities, wo man
wirklich dazugehört, nicht auf „Inserat“-Basis oder auf Knopfdruck bilden. Meistens passieren
nette Bekanntschaften doch dort, wo Du es am wenigsten erwartest. Die Überwindung gehabt
zu haben, da hinzugehen und ein-einhalb Stunden zu bleiben, ist - wie ich finde - etwas, worauf
Du STOLZ sein kannst. Du hast keinen Grund Dich als jemand zu fühlen, mit dem „keiner“
was zu tun haben will. Du klingst richtig nett und bist offenbar ein umsichtiger, nachdenklicher
und intelligenter Mensch. Das ist ja schon Deinen geschrieben Worten zu entnehmen. Es ist
eine Katastrophe, dass Du so ein verzerrtes Selbstbild hast. Ich weiß genau, wie man sich
fühlt wenn es einem so geht - und ich würde Dich am liebsten durchschütteln, damit es Dir
auf einmal wie Schuppen von den Augen fällt, wie mir vor geraumer Zeit.
Das Einzige, was Du mit Sicherheit lernen musst (das musste ich auch), ist, von Dir selber
grundsätzlich eine gute Meinung zu haben und zu wissen, dass nichts was Dir begegnet
eine Prüfungssituation sein muss - außer Du machst es für Dich selber zu einer. Wenn Du
Dich immer wieder (völlig gehemmt von Deiner eigenen Unsicherheit) selber einschränkst
und in sozialen Situationen praktisch nur „zuschaust“, wie andere auf Dich reagieren, um
dann an diesen Reaktionen Deinen eigenen Wert messen, dann kannst Du nicht glücklich
mit Dir selber werden. Ich weiß aus Erfahrung: wenn man starke Minderwertigkeitsgefühle
mit sich herumschleppt, geht man grundsätzlich davon aus, dass die Reaktion der anderen
Aufschluss darüber gibt, wer man ist. Dann wartet man natürlich dauernd darauf, dass
die anderen eines schönen Tages kommen und sagen: "Komm her, Du bist eine/r von uns,
wir möchten Dich gerne dabei haben."
Weil man aber ständig eine recht unsichere Art an den Tag legt, weil man sich ja
für minderwertig hält, werden andere einem immer nur bestätigen, dass man minderwertig
ist. Nicht, weil SIE das so sehen, sondern weil sie darauf reagieren, wie man sich selber
sieht. Das erste was passen muss, ist Deine Haltung Dir selber gegenüber. Die muss
positiv und wertschätzend sein - auch dann, wenn Dinge nicht so laufen, wie Du es Dir
wünscht.
Ich an Deiner Stelle würde daher anfangen, erst Mal zu üben, an jedem Tag (egal, ob er
„beschissen“ oder ganz gut abgelaufen ist) abends bewusst eine auf Positives ausgerichtete
Tagesbilanz zu ziehen. Das heißt: Dir selber vor Augen zu führen, was Du gut gemacht und
geschafft hast, wo Du Dich gut gefühlt hast und womit Du zufrieden bist … An dieser Bilanz
solltest Du auch gefühlsmäßig teilhaben, nicht nur kopfmäßig.
Und bei allem, was Du nicht als „gut“ befindest, könntest Du versuchen, das große Ganze
damit in Relation zu setzen. Sodass Du Dir z.B. immer wieder sagst: „Okay, da bin ich
heute wieder recht introvertiert aufgetreten, obwohl ich eigentlich mehr zu sagen/ zu
geben gehabt hätte. Aber das ist kein Grund, mir selber dafür böse zu sein.“ Wenn Du
Dich morgens in den Spiegel schaust, sag Dir selber, dass Du Dich magst und alles tun
wirst, um Dich an diesem Tag wohl zu fühlen. Das ist ein ganz komisches Gefühl am Anfang,
man kommt sich regelrecht bescheuert vor dabei. Aber gerade wer sich dabei bescheuert
vorkommt, hat großen Bedarf, das Mal zu machen. Das kann sich anfangs so schlimm anfühlen,
dass Dir dabei schlecht wird oder Du zu weinen beginnst - k.A. kommt darauf an, wie Du
gestrickt bist.
Egal wie: An einem stabilen und gesunden Selbstwertgefühl muss man ganz, ganz lange
und ausdauernd arbeiten. Kaum gibt man nach, liegt man wieder am Boden. Aber es
zahlt sich aus! Denn je mehr Du mit Dir selber ins Reine kommst und weißt, dass Du
es verdienst, gut behandelt und beachtet zu werden, umso weniger musst Du künstlich
dafür sorgen, dass Menschen auf Dich zukommen, die Dir eben diese Wertschätzung
und Zuneigung entgegenbringen.
Du hast ganz viel Gelegenheit zum Üben. Warte nicht wieder monate- oder jahrelang, bis
Du aus Deinem Schneckenhaus rauskommst. Begib Dich gerade jetzt immer wieder
unaufhörlich in kommunikative Situationen - aber erst Mal nicht mit dem Ziel, jemand anderen
zu beeindrucken oder von anderen gemocht zu werden. Sondern einzig mit dem Ziel, egal was
Dir begegnet, mit einem immer größeren Selbstbewusstsein zu beantworten. Wenn jemand
lieb zu Dir ist, sag Dir: „Das habe ich aber wirklich verdient.“ und wenn jemand scheiße zu Dir
ist (ohne dass Du ihm/ihr absichtlich Grund dafür gegeben hast), sag Dir: „Das ist Dein Problem,
nicht meines. Ich mache Deine Aggressionen sicher nicht zu meinem Problem.“ Und
wenn andere Dich ignorieren oder Du Dich ausgeschlossen fühlst, sag Dir: „Darauf kommt
es jetzt nicht an. Ich weiß genau, dass ich ein liebenswerter Mensch und ein guter Freund
bin - Euer Pech, wenn ihr das nicht bemerkt.“ oder „Super! Dann kann ich mich wenigstens
ungestört mit ... (was auch immer Du gerne für Dich selber tust) beschäftigen.“
Von der „Was mach ich denn bloß falsch?“-Frage würde ich Dir in diesem Stadium des
Gehemmtseins noch abraten, denn egal, wie oft Du sie Dir stellst, Du bewegst Dich derzeit
wahrscheinlich immer wieder im Kreis. Solange Du nur Abstand nimmst, Deine Wunden
leckst und dann immer auf dieselbe Weise und mit den selben Erwartungen auf andere
zugehst, wird es nur eine Aneinanderreihung von Frustrationen geben. Du lernst soziales
Verhalten nur in ständigem Kontakt mit anderen. Das kann anstrengend sein und weh tun,
aber es ist die beste Art zu lernen und was zu ändern. Wenn man sehr sensibel
ist, zieht man sich oft verfrüht zurück und lebt nurmehr im Kopf. Das ist ungesund.
Erst musst Du Deine Haltung Dir selber gegenüber in den Griff bekommen. Wenn Du
das Mal besser hinkriegst, dann kannst Du auch irgendwann die „Was mache ich falsch?“-
Frage in Angriff nehmen - weil es dann nicht mehr darum geht, Dich selber dafür zu bestrafen,
wieder „versagt“ zu haben oder anderen Vorwürfe dafür zu machen, nicht so zu reagieren wie
Du es Dir wünschst. Es geht dann - aus der Perspektive eines Menschen, der unter allen
Umständen weiß wer er ist und was er will - ganz sachlich um die Frage: „Was für Signale
sende ich aus?“, „Will ich das? - Ja oder Nein?“, wenn ja: Toll! Wenn nein: „Wie kann ich das
ändern?“ (und dann probiert man - ohne sich selber zu quälen - einfach verschiedene neue
Strategien aus, wie man auf andere zugeht). Das tut dann aber nicht mehr so schlimm weh.
Es ist mehr wie ein Experiment, in dem man zunehmend positive Überraschungen erlebt,
weil man ja keine großen Erwartungen hat. Man experimentiert halt.
Wie auch immer das aber aussieht, diese Angst und spürbare Anspannung muss weg, und
das geht nur, wenn Du Dich erst Mal selber mögen und lieben lernst. Sonst ziehen Dir
die Reaktionen von fremden Menschen immer wieder den Boden unter den Füßen weg.
Ist Dir schon Mal aufgefallen, dass Menschen mit einem starken Selbstwertgefühl - oft
auch dann, wenn sie wenig begabt und physisch relativ unattraktiv sind - den größten
Schwachsinn labern können und trotzdem überraschend viel Anklang und Bestätigung
in ihrem Umfeld finden? Während Menschen mit einem offensichtlich geschwächten
Selbstvertrauen auch dann schwer durchkommen / Bestätigung finden, wenn sie
super-intelligente Dinge von sich geben oder eigentlich ganz hübsch sind? Ich bin ja
keine soziologische Expertin, aber meine Beobachtungen im Leben bringen mich
immer mehr zu dem Schluss, dass Menschen (im sozialen Kontext) - vor allen anderen
Dingen - darauf reagieren, was eine Person von sich selber hält. Wenn man z.B. merkt,
jemand ist total stolz auf das, was er gerade gemacht hat und zeigt das auch, dann ist es
unwahrscheinlich, dass er/sie mehrheitlich negatives Feedback bekommt. Auch dann,
wenn das, worauf diese Person so stolz ist, gar nicht soooo toll ist. Wenn jemand,
der eigentlich super-perfekt arbeitet, aber nun Mal selber sein/ihr größter Kritiker
ist (und zwar nicht nur show-halber, sondern tatsächlich), dann trägt die eigene Unsicherheit
und chronische Unzufriedenheit mit dem was man tut (z.B. ein ständiges Herunter-
spielen aller guten Errungenschaften und ein permanentes Betonen der Fehler, die
man vermeintlich gemacht hat) mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu bei, dass das
gesamte Umfeld das Resultat der Arbeit gering schätzt. Das Umfeld beurteilt
meistens nur die Art, „wie“ jemand sich bzw. sein Tun repräsentiert.
Während die Art, wie man sich selbst bzw. sein Tun repräsentiert wiederum davon
abhängt, wie man zu sich selber steht. Darum ist mein dringendster und hauptsächlichster
Rat an Dich immer noch: Sieh zu, dass es Dir irgendwie gelingt, erstmal eine gute
Meinung von Dir zu haben und gut für Dich zu sorgen. Der Rest kommt dann
(angepasst daran, wie gut und rasch Dir das gelingt) nach und nach von selber -
und dafür musst Du dann eigentlich gar nicht „suchen“. Harmonischere Kontakte
und Beziehungen kommen dann einfach auf Dich zu, weil Du dann eine gewisse
Zufriedenheit und Ruhe verkörperst, die anderen Menschen angenehm sein wird.
Ich hab mir übrigens zum Thema Selbstvertrauen früher mehrere Bücher besorgt, weil
ich auch schon so verzweifelt war. Eines davon, das gar nicht so dick ist und zudem einfach
verständlich, ist das Buch „So gewinnen Sie mehr Selbstvertrauen - Freundschaft
mit sich schließen, den inneren Kritiker besiegen“ von Rolf Merkle. Der Autor ist
Psychologe und macht in einer recht einfachen und heiteren Schreibweise darauf
aufmerksam, wo Menschen, die sich selber nicht annehmen können, eigentlich
überall zerstörerische und hemmende Gedankenmuster aufrecht erhalten. Im ersten
Teil spricht er über den „inneren Kritiker“ und ganz verschiedene Ausdrucksformen
eines zu geringen Selbstvertrauens. Im letzten Teil gibt er viele gute Übungen zur
Stärkung des Selbstvertrauens preis, die Spaß machen können und wirkungsvoll
sind. Diese oder anderweitige Literatur zum Thema „Selbstwertgefühl“ wären für
Dich vielleicht auch ein erster Schritt, um die Therapie-Frage neu zu überdenken.
Ich finde es übrigens schön, dass Du und HeyNow88 Euch hier gefunden habt. Ich
hoffe, dass für Euch ein gehaltvoller Austausch stattfindet und Ihr Euch gegenseitig
rasch gute Freunde werdet. Mit jemandem reden zu können, der praktisch dasselbe
durchmacht bzw. durchgemacht hat, ist vielleicht das Beste was Dir jetzt
passieren kann.
Ansonsten weißt Du ja, dass (falls Du das jemals möchtest) auch von meiner Seite
her das Angebot steht, dass Du Dich jederzeit aussprechen kannst.
Alles Liebe inzwischen -
Glasperle