Liebe Leser,
als gelegentlicher stummer Beobachter hier im Forum habe ich mich dazu entschieden, meinen eigenen Beitrag zu schreiben.
Ich möchte hier meine Lebensgeschichte mit Euch teilen, mein Leiden verbalisieren, meine Denkprozesse offenbaren und bin offen für Nachfragen, Ratschläge und Rückmeldungen aller Art.
Abschnitt 1 - Unbeschwertheit (Jahr 1-10)
An einem sonnigen Herbsttag im Jahr 1990 erblicke ich, ein mittlerweile 35-jähriger Mann, das Licht des Lebens. Ich bin ein glückliches und fröhliches Einzelkind einer depressiv/ängstlichen Mutter und eines empathielos/strengen Vaters. Meine frühe Kindheit verläuft unauffällig. Ich bin verträumt, fröhlich, kreativ, offen, intelligent und lebendig.
Beim Sport, ich bin bereits mit 6 Jahren einem Judo-Club beigetreten, und in der Schule bin ich ausserordentlich talentiert. Ich verbringe viel Zeit im Training, bestreite an den Wochenenden erfolgreich Wettkämpfe und verbringe Zeit mit meinen Freunden draussen im Wald oder auf dem Sportplatz.
Ich verschlinge reihenweise Bücher und Hefte, bastle gerne oder spiele Gameboy. Die vielen Streitigkeiten zwischen meinen Eltern, die Abwertungen meines Vaters und die Ängste meiner Mutter nehme ich höchstens unterbewusst wahr.
Abschnitt 2 - Der Wandel (Jahr 10-20)
Ich fühle mich zu Hause zunehmend unwohl und in permanenter Wachsamkeit, um der Kritik und Gängelung meiner Eltern, vor allem meines Vaters, nicht zum Opfer zu fallen. Ich gewöhne mir an, mich auf Zehenspitzen durch das Haus zu bewegen.
Meine Eltern streiten täglich (knapp 20 Jahre später werden sie ihre Streits bei einem Versuch der Aufarbeitung meinerseits als "normale Diskussionen" beschreiben) und ich bin dabei Auslöser, Beobachter und Schlichter zugleich. Die Tränen und die Hysterie meiner Mutter, die Trennungsandrohungen und Kaltherzigkeit meines Vaters, die permanente Angst, dass meine Eltern sich trennen werden zu prägenden Kindheitserinnerungen.
Judo macht mir schon einige Jahre keinen Spass mehr, doch ich getraue mich nicht, dies meinem Vater zu gestehen. Die frühen Erfolge haben zu hohem Erwartungsdruck meines Trainers geführt, ich bewerbe mich sogar für eine Sportschule um Vollprofi zu werden und bin erleichtert, als sie mich nicht annehmen. Mit 15 Jahren hänge ich das Hobby komplett an den Nagel.
Ich entwickle mich körperlich nicht so schnell wie die anderen Jungs und werde diesbezüglich zunehmend unsicher und gehemmt. Während andere an Partys ihre ersten Erfahrungen mit Drogen und Mädchen sammeln, verbringe ich Zeit mit einzelnen Freunden oder alleine.
Ich bin über beide Ohren verliebt in ein Mädchen aus meinem Dorf, verbringe viel Zeit mit ihr. Obwohl sie ständig einen neuen Freund hat bleibe ich passiv und warte darauf, dass sie mich endlich sieht und wahrnimmt - was nie passieren wird. Ich reserviere mich trotzdem für sie und werde mitunter deshalb erst mit knapp 23 meine erste Freundin haben.
Mit 15 beginne ich eine Lehre in der Stadt.
"Jetzt wird alles anders... besser"
Dieser Satz wird zum roten Faden meines Lebens. Ich verknüpfe damit Bedürfnisse, Sehnsüchte und Wünsche die erfüllt werden, wenn ich nur noch etwas weiter ausharre und abwarte. Heute weiss ich, dass es nicht so ist.
Abschnitt 3 - Der Absturz (Jahr 20-35)
Ich habe meine Lehre abgeschlossen, die Berufsmaturität in einem Jahr erfolgreich absolviert und meinen Dienst am Vaterland in Form der Militärpflicht geleistet. Ich bewerbe mich auf meine erste Arbeitsstelle und erhalte von einer Top-Firma eine Zusage. Die Weichen sind gestellt.
"Jetzt wird alles anders... besser"
Mit 23 habe ich meine erste Beziehung. Meinen ersten Sex. Und bin das erste mal komplett mit mir selber überfordert.
Meine Gedanken drehen sich im Kreis, ich habe so viele Ängste und Sorgen, bin Eifersüchtig, male mir Schreckensszenarien aus.
Bin ich bei ihr, will ich weg - Bin ich weg, will ich zu ihr.
Anstatt zu entdecken, was ich überhaupt für sie empfinde, analysiere ich nur ihre Gefühle mir gegenüber um Verletzung zu vermeiden. Liebesbekundungen ihrerseits münden in Verschwörungstheorien meiner Selbstablehnung, Zuneigung engt mich ein.
Schreibt sie sofort zurück, fühlt es sich langweilig und schal an - Schreibt sie nicht sofort zurück fühle ich mich betrogen, hintergangen, nicht ernst genommen und verlassen.
Gut gemeinte Ratschläge von Freunden "Mach Dir doch nicht so viele Gedanken" untergraben mein nicht vorhandenes Selbstvertrauen zusätzlich.
Irgendwas in mir schaltet aus und wird bis zum heutigen Tag im off-Zustand verweilen. Ich erhalte meine erste Diagnose: Erschöpfungsdepression und werde stationär in eine psychiatrische Klink eingewiesen. Der Druck entweicht.
"Jetzt wird alles anders... besser"
Ich rede über meine Gefühle, treibe sehr viel Sport und verzichte auf den chronischen Cannabiskonsum, mit dem ich seit dem 21. Lebensjahr versuche, meine Gedanken zu beruhigen. Nach dem dreimonatigen Aufenthalt gehe ich zurück an meine Arbeitsstelle, wo ich Stück für Stück mein gewohntes Pensum aufnehme.
Ich gehe weiter in Therapie, nehme Antidepressiva, fange wieder an zu Kiffen. Zwei Jahre später bin ich wieder am gleichen Punkt. Ein zweiter stationärer Aufenthalt mit anschliessender Tagesklinik folgt.
"Jetzt wird alles anders... besser"
Cannabisentzug, Meditationstraining, Gespräche mit Psychiatern und darauffolgende Diagnosen. Ich tauche immer tiefer, verlier den Zugang zu meinen Emotionen und verzettle mich in der Selbstanalyse.
Ich strebe nach Veränderung, also künde ich meine Arbeitsstelle und wechsle im Februar 2020 meinen Wohnort innerhalb des Landes.
"Jetzt wird alles anders... besser (?)"
Kaum angekommen beginnt die Pandemie. Ich verliere sämtliche Strukturen, die mir noch Halt gaben und falle immer tiefer in die Depression. Ich konsumiere wieder Cannabis und versuche damit, das Leid meiner Seele irgendwie zu betäuben, wohl im Wissen, die Symptome kurzfristig zu verbessern und den Grund tiefer zu manifestieren. Gelegentlich tausche ich einige Stunden Glücksgefühle für tagelangen Kokain-Kater.
Ich halte knapp zwei Jahre durch bevor ich meinen Job künde und wieder in meine Heimat zurückziehe. Ich finde schnell einen Job, wohne vorübergehend bei meinen Eltern, mit denen ich mittlerweile eine etwas oberflächliche, aber gute Beziehung führe. Cannabis-Stop. Wohnungssuche. Wieder Kontakt zu meinen alten Freunden.
"Jetzt wird alles anders... besser (nehme ich mir das überhaupt noch ab?)"
Knapp drei Monate dauert es, bis ich meinen Kampf mit selber verliere und wieder in die alten Muster zurückfalle. Die Joints am Abend sind die Belohnung für den überstandenen Tag. Ich rauche sie alleine in meiner marginal möblierten Wohnung mit den gestapelten Pizza-Schachteln. Ich isoliere mich zunehmend. Will mich niemandem aufbürden, ich, das kleine, unbedeutende Menschlein, dass es nicht mal fertig bringt, sich selbst gegenüber Achtung zu zeigen.
Ich wechsle im zwei-Jahrestakt die Jobs. Die innerliche Kündigung beginnt jeweils bereits in der Probezeit. Bewerbungsprozesse, Mitarbeitergespräche und Begegnungen werden zu Schauspieleinlagen die mir, zu meinem eigenen Erstaunen, alle abnehmen.
Der Raum meiner Gedanken wird kleiner. Die Pfade der Gedankengänge meiner Selbstkasteiung werden zu viel befahrenen Hauptstrassen. Therapiestunden werden zu Alibi-Übungen, ich simuliere Anteilnahme und Aufmerksamkeit, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass ich nicht alle Ansätze, die mir der Therapeut vorschlägt, bereits durchdenkt und aus lauter Selbstverachtung abgelehnt hätte.
Ich lasse mich treiben in der Agonie meiner Gedanken und meiner gequält schreienden Seele, die mich anfleht, die Hoffnung nicht zu verlieren. Ich wünsche mir so oft einfach gehen zu können, an einen Ort der Erlösung und der Erfüllung. Denn:
"Dann wird alles anders... besser"
Danke fürs Lesen