Also zunächst einmal sind sowohl Ritalin als auch Medikinet Handelsnamen desselben Wirkstoffs, nämlich Methylphenidat, allerdings eben von unterschiedlichen Herstellern. In Deutschland hat unser Kind Medikinet bekommen; jetzt in den USA Ritalin, einfach weil Medikinet in den USA nicht erhältlich ist.
Genau wie früher werden immer noch Kinder sehr jung darauf eingestellt und das ist auch durchaus sinnvoll, da sie ihr Verhalten noch nicht so gut selber kontrollieren und steuern können wie man das als Erwachsener vermag.
Dass man zum Zombie wird, wenn man das Medikament nimmt, habe ich noch nie gehört. Allerdings wirkt es sich schon deutlich auf das Verhalten aus und auch die Appetitlosigkeit ist eine bekannte Nebenwirkung. Genauso verhält es sich beim Schlafverhalten; auch damit haben viele Probleme.
Unsere Tochter hat Medikinet bekommen als sie 8 Jahre alt war. Für sie war es ein absoluter Segen und - sie ist mittlerweile fast 20 - sie empfindet das bis heute so. Sie war früher sehr impulsiv, hat sich damit viele Kontakte kaputt gemacht, weil die anderen Kinder mit ihrer Hibbeligkeit nicht gut umgehen konnten, teilweise war sie sehr schnell beleidigt und hat sich in eine Befindlichkeitsspirale reingeschraubt. Aggressiv war sie zwar nicht, aber sie hat "zugemacht" - es bedurfte schon einer gewissen Strategie, um sie aus ihrer Emotionalität wieder herauszuholen. Damit waren ganz junge Kinder überfordert. Das Medikinet hat ihr ihre Sozialkompetenz wieder zurückgebracht; lt. des "Ganztagschefs" der Grundschule, der auch ihr Sportlehrer war, wurde sie viel relaxter, konnte plötzlich über sich selber lachen, nahm vieles nicht mehr so übel - sie war allerdings immer noch sie selber. Sie ist zwar bis heute keine Partygängerin und sucht sich ihre Freund*innen sehr sorgfältig aus. Trotzdem kommt sie praktisch mit jedem gut klar und es bleibt stets genug Zeit sich die Reaktion auf einen Reiz zu überlegen. In der Schule hatte sie im 1./2. Schuljahr noch Probleme, weil sie sich von allem und jedem ablenken ließ und sich nicht konzentrieren konnte. Blöderweise lernt man da das Alphabet und die Grundrechenarten und da lag dann doch etwas im Argen und sie konnte ihr Potenzial nicht abrufen. Das Medikinet hat ihr dann aber geholfen, ihr Defizit zu kompensieren, so dass dann doch eine uneingeschränkte Gymnasialempfehlung ausgesprochen wurde. Die brauchte sie, weil sie unbedingt auf eine NRW Sportschule wollte - körperliches Auspowern war ihre Strategie, um die Hyperaktvität zu kompensieren und das hat super geklappt.
Ohne Medis war jeder Reiz gleich wichtig für sie. Egal ob die Fliege an der Wand oder ein sich näherndes Auto. Das war manchmal nicht ganz so lustig und die Medikamente haben die Situation deutlich entspannt. Waren ihre schulischen Leistungen im 1./2. Schuljahr noch mäßig, ging es für sie dann unter Einnahme der Medikamente steil nach oben. Ihr Abi hat sie dann tatsächlich mit einem sehr guten 1er-Schnitt geschafft, war sehr beständig in all den Jahren unterwegs und hat sogar ein Schuljahr übersprungen. Völlig ohne Druck von uns, sie war und ist stark intrinsisch motiviert, bezeichnet ihre Schulzeit als total toll. Da hat sie mir etwas voraus. 😉
Die Medikamentenverordnung erfolgte allerdings nach SEHR intensiver, monatelange Diagnostik durch Psychologen, bei der ein Großteil ihres kompletten sozialen Umfeldes Rückmeldung geben musste. Neben Eltern wurden Kindergärtner, Lehrer, Freunde, Trainer, Ärzte etc. einbezogen. Natürlich lag es an uns, wen wir einweihen wollten; das haben wir schon behutsam entschieden. Und dann hat sie sich genauso behutsam an die richtige Dosis herangetastet. Sie musste unzählige Tests absolvieren - mich wundert, dass du diese Analyse nicht durchlaufen musstest und es eine Diagnose auf Verdacht gegeben zu haben scheint.
Du siehst, es kann durchaus auch völlig anders laufen - WENN die Diagnose stimmt. Bei dem, was du berichtest, bin ich nicht sicher, ob nicht doch andere Faktoren viel gravierender auf dein Gesamtempfinden eingewirkt haben.
Und nein, ich finde nicht, dass du eine normale Kindheit hattest. Für mich ist es nicht normal, dass eine Mutter einem Kind sagt, es sei unerwünscht auf dieser Welt. Ganz besonders ungewöhnlich und schlimm war dann wohl auch der Missbrauch. Es tut mir sehr leid, dass du so etwas erleiden musstest. Zu einem Kind gehören auch Freunde oder zumindest gleichaltrige Spielpartner - man muss ja nicht zwingend in einem Pulk an Freunden groß werden. Eine gewisse Anzahl an Sozialkontakten halte ich hingegen sehr wohl für normal und auch wichtig, denn dadurch lernt man Sozialkompetenz. Gerade in der Schule wechseln die Freunde immer mal wieder. Wenn aber so gar keine Freundschaften entstehen und sogar Lehrer Alarm schlagen, finde ich das bedenklich.
Der Blick zurück nützt dir jetzt nur noch insofern etwas als er dir bei der Aufarbeitung helfen kann. Versuch einen Therapieplatz zu bekommen und lass dir helfen. Du hattest keinen guten Start, aber es ist nicht zu spät, dein Leben jetzt zum Positiven zu wenden. Ich wünsche dir viel Erfolg und einen langen Atem. Das aufzuarbeiten wird seine Zeit dauern.