Eine Geschichte an der ich dran bin:
An ihrem ersten Tag nach den Sommerferien kochte Claudine. Sie kochte vor Wut und Enttäuschung - über ihre Eltern, über ihre Therapeutin und ihr eigenes Unvermögen, sich ihren Wünschen ein einziges Mal widersetzen zu können. Ein Internat. Das hatte ihr noch gefehlt. Ein Internat für Mädchen in Einsiedeln in der Schweiz. Sie würde ihre Clique vermissen, ihre Pferde und ihren Freund. Sie hasste dieses Gemäuer mit dem wuchtigen Erker über der Tür schon jetzt, kaum dass sie aus dem silbergrauen Peugeot 307 SW der Mutter stieg und den breiten kiesbestreuten Weg betreten hatte.
Die Strahlen der späten Nachmittagssonne fielen über die Waldlichtung auf den Internatsplatz. Scharen von Mädchen huschten und rannten an Claudine vorbei zum Gebäude. Claudine ging genervt und unmutig auf das Gebäude zu. In der weit geöffneten Haustür stand der Abwart. Sein langer schwarzer Mantel glitzerte in der Sonne. Sein bleiches Gesicht fiel Claudine schnell auf und ein mulmiges Gefühl beschlich sie. Seine schwarzen Stiefel mit den silbrigen Naben verhiessen einen geheimnisvollen Gothicstil. Einige Eltern von Schülerinnen nannten ihn deshalb Draculas Sohn. Er begrüsste jedes Mädchen einzeln und deutete mit der Hand in eine Richtung in das Innere des Gebäudes. Worauf die Mädchen in diese Richtung verschwanden.
Claudine hatte eine reiche Vergangenheit mit Alkohol und einen Entzug in einer Jugendpsychiatrie hinter sich. Sie war eine Partymaus. Keine Party ging ohne sie ab. Plauschtrinken bis zum Koma, gehörten zu ihrer Vergangenheit. Nun hatten ihre Eltern genug. Sie musste ins Internat. Ihre grünen Augen glänzten in der Sonne. Sie blinzelte. Ihre blonden Haare schimmerten hell im Licht. Die Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
Der Typ, der so lässig im Eingang lehnte, sollte bestimmt den Abwart darstellen. Er gehörte zu der Sorte von Männern, die einen mit ihrem Blick auszogen und sich dabei den Speichel von den Lippen leckten. Claudine schüttelte angewidert den Kopf und wollte sich gerade abwenden, als dieser schmierige Mr. Cool auf sie zu schlenderte.
"Hallo, mein Name ist Moritz Augustberger. Ist es dein erster Tag hier?"
"Sicher! Und auch mein letzter." Sie wich ihm genervt aus.
"Das sagen alle junge Frauen, die zu uns in das Internat kommen."
"Mir egal."
Claudine wurde wütend. Was hatte er ihr schon zu sagen, dachte sie. Sie drückte sich zwischen dem Abwart und anderen Mädchen hindurch zum Eingang. Sie suchte nach der Zimmernummer. In der Eingangshalle ist ein Belegungsplan zu sehen. "A2" - "Ach, in den zweiten Stock hinauf", schnaufte sie.
Sie stieg die Treppen empor. Ihre weisse Netz-Bluse mit den weissgrauen Bändern flatterte im Zuge des Windes. Dutzende jugendliche Mädchen rannten an ihr vorbei.
An einer Wand neben der Treppe stand geschrieben: "Fu** the Augustberger." Claudine musste lachen. Rotbraune Flecken leuchteten neben den verschnörkelten Schriftzeichen. "Das muss Blut sein", dachte sie.
Sie ging die letzten Stufen empor. Der schwarzgraue Kachelboden hallte. Gleichzeitig schallten die Stimmen durch die Gänge. Claudine zog ihre schwarzen Schuhe aus. Ihre Füsse drückten sich feucht auf dem Boden ab. Zwischen zwei Türen hing ein Bild von Jesus an der Wand. Rotes Blut war an seinen Füssen. Oberhalb der Türen waren die Aufschriften A1 und A2 zu lesen. Claudine ging in das Zimmer mit der Aufschrift A2.
Vorne auf einem Pult lagen alte Zeitungen. Claudine nahm eine Zeitung. Sie erschrak. In einer Schlagzeile der Zeitung las sie nämlich: "Mädchenmord im Internat" - Polizei tappt im Dunkeln.'
"Schluss", schrie sie. "Schlu-uss!"
Jetzt erst, hörte sie die Tiraden der Mädchen im Zimmer. Sie schaute sich um. Ein Mädchen kam auf sie neugierig und bedacht zu.
"Du siehst aus, wie Anna. ANNA!"
Das Mädchen schrie diesen Namen lauthals heraus. Jetzt war es plötzlich mucksmäuschenstill im Zimmer. Alle blickten nach vorn zu den Mädchen.
"Ich bin nicht Anna. Ich heisse Claudine." Sie fühlte sich schlecht und benommen. Ein roter Schleier legte sich über ihre Augen. Sie hatte schon als Kind eine Neigung zu Ohnmacht und Übelkeit gehabt. Mit dem Konsum von Alkohol und Medikamenten war es allerdings schlimmer geworden. Die Psychiater diagnostizierten an ihr generalisierte Angstzustände. Claudine nervte sich, als sie diese Diagnose zum ersten Mal hörte. Eine Soziophobie sollte sie haben - Eine Phobie vor Menschen. Sie war doch in ihrer Clique glücklich.
Die Besinnungslosigkeit führte dazu, dass sich um Claudine eine Gruppe bildete. War Claudine, die ermordete Klassenkollegin Anna? War Claudine die Seele von Anna? Die Jugendlichen tuschelten. Eine sagte: "Sie sieht blass aus, wie ein Geist."
Eine andere rief aus: "Annas Geist?"
Ein Mädchen zupfte an der Bluse von Claudine. "Nein, sie ist kein Geist. Aber Anna kann sie nicht sein." Die Internatsmädchen der A2 waren geschockt und mitunter sprachlos. Claudine hatte die gleiche Statur, die gleiche Frisur. Jede einzelne Bewegung war so exakt abgestimmt, als wäre
sie Anna selbst. Claudine wachte auf. Selbstbewusste Reaktionen waren das Einzige, was jetzt zählte. In diesen Sekundenbruchteilen, wo es um alles ging. Claudine hob sich hoch. So, dass sie sitzend auf dem Boden war. Die Gruppe wich zurück. Ein Mädchen mit braunen Haaren fragte sie: „Anna, bist du es?
Für einen kaum wahrnehmbaren Moment war der ganze Körper von Claudine in der Schwebe. Die Mädchen riefen: „Annas Geist!“ Ihr schoss eine Flut Cortison und Adrenalin durch den Körper.
Fünf Sekunden waren jetzt vergangen, und fast so viele folgten noch. Sekunden, für die Claudine, für die Mädchen ein Geist war. Sekunden, in jenen Claudine in verschleierten Halluzinationen war. Sekunden in jenen sie einen verblassten silbrigen Körper wahrnahm. Anna lebte.
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