Liebe Community,
ich habe mich immer wieder mit Problemen an euch gewandt und habe sehr oft wirklich hilfreiche Ratschläge bekommen - dafür zuallererst: Danke!
Ich bin männlich, 22 Jahre alt und habe vor ca. 2 1/2 Jahren eine Psychotherapie begonnen, die am Anfang nur im Kleinen zu Fortschritten führte. So wurde ich beispielsweise sozial wesentlich weniger gehemmt. Das große Problem mit dem Selbstwert und der Selbstorganisation blieb jedoch vorerst. Der Therapeut kam ziemlich schnell auf mein Verhältnis zu meinen Eltern, besonders das zu meinem Vater, das ich selbst als problematisch empfand.
Also arbeiteten wir uns intensiv am Verhältnis zu meinem zum Kontrollzwang und zur subtilen Bevormundung, Abwertung und Sabotage neigenden Vater ab. Das Verhältnis zu meiner Mutter wurde zwar als zu eng und mit Tendenz zum Partnerersatz beschrieben, jedoch nicht als größtes Problem betrachtet. Allgemein stellte der Therapeut bei mir ein Verhaftetsein in einer Kind-Rolle fest.
Das war für mich nicht immer leicht zu verstehen, fühlte ich mich doch freiwillig in der Distanz zu meinem Vater und in der Nähe zu meiner Mutter, bei der ich nach wie vor wohne.
Meine Eltern sind seit meiner Geburt getrennt und meine Mutter, damals schon 44 Jahre alt, hatte seitdem keinen neuen Partner mehr und seitdem auch nicht mehr regulär gearbeitet. Sie konzentrierte sich voll auf mich und ihre bald alte und kranke Mutter, die 2015 starb. Ich war für sie die Begründung, kein eigenes Leben mehr zu haben und nicht mehr zu arbeiten. Hier sehe ich jetzt, dass sie an meinem ewigen Kind-Status auch ein unbewusstes Interesse hatte und hat, obwohl sie immer das Gegenteil behauptet. Mein Vater, 6 Jahre jünger als meine Mutter, heiratete erneut eine fast 30 Jahre jüngere Frau und zeugte noch einmal zwei Kinder, die jetzt 7 und 6 Jahre alt sind.
Durch das schwierige Verhältnis zu meinem Vater, das durch die einseitige therapeutische Aufarbeitung für mich den Anlass gab, den Kontakt zu ihm weiter zu reduzieren, wurde das Verhältnis zu meiner Mutter in den letzten Jahren wieder etwas enger, obwohl ich mit etwa 18 Jahren bereits auch da eine Abgrenzungstendenz hatte, die sich allerdings wieder in Luft auflöste. Durch bis jetzt drei gescheiterte Versuche zu studieren, während derer ich mehr mit Essen und kurzfristiger Ablenkung beschäftigt war, als mit dem Studium, und die Coronazeit suchte ich möglicherweise Schutz in der Kind-Rolle. Seit dem Beginn der Corona-Krise rutschte ich immer tiefer in eine Depression, die mich seit Oktober 2020 für 6 Monate vollständig lähmte. Während dieser Depression begann ich, öfter zu meinem Vater zu gehen und Kontakt zu ihm und zu meinen Halbgeschwistern zu suchen, deren Existenz ich zu gerne ignorierte und die ich nie schätzen und lieben gelernt hatte. (Es dauerte mehr als ein Jahr nach der Geburt des ersten Kindes, dass ich meiner Mutter davon erzählte und noch weitere 1 1/2 Jahre, bis ich endlich für ein persönliches Zusammentreffen bereit war. Mein Vater tolerierte das - meiner Ansicht nach viel zu lange.) Dadurch wurde mir bewusst, dass sich mein Vater um die zwei Kinder wesentlich mehr kümmert, als er sich jemals um mich gekümmert hat, zumal diese (noch, der Auszug der Mutter mit den Kindern läuft, die Scheidung erfolgte schon 2017) bei ihm wohnen. Damit begann eine intensive Beschäftigung mit meiner Kindheit, deren bisher verdrängte problematische Aspekte ich hier in Stichpunkten darlege:
Andererseits führt diese Erkenntnis auch zu tiefer Trauer. Trauer um all die verlorene Zeit, die verlorenen Gelegenheiten zum Kontakt mit Menschen, auch mit meinem Vater und meinen Halbgeschwistern, mit denen der Kontakt, die Fähigkeit zur Abgrenzung und zur Gegenwehr gegenüber manchen Äußerungen meines Vaters vorausgesetzt, sicher nicht unangenehmer gewesen wäre als der zu meiner überbehütenden Mutter, zumal ein Ausgleich elementar wichtig gewesen wäre. Meine kleinen Halbgeschwister können sowieso nichts dafür. Ich habe sie kollektiv „mitbestraft“. Ich trauere nicht zuletzt um die verlorene Kindheit und Jugend voller Ängste und Selbstwertprobleme, die im Rückblick eher wie ein Dahinvegetieren erscheint. Voller Neid blicke ich auf die normale Kindheit meiner Halbgeschwister, die es auch durch das vermehrte Engagement meines Vaters viel besser und unbeschwerter haben als ich, die viel früher auf die Toilette gegangen sind, Fahrradfahren gelernt haben, einen Schwimmkurs besucht haben etc. etc. Manchmal übernimmt mich die Angst, wenn ich denke, was für ein großes Problem diese Dinge bei mir waren.
Ich versuche jetzt, eine 180°-Wende hinzubekommen, um nicht weiter vor der Realität wegzulaufen. Ich suche jetzt einen Ausbildungsplatz, um im Herbst anfangen zu können, wirklich zu leben. Den Kontakt zu meinem Vater werde ich weiterhin suchen und intensivieren. Ich schaffe jetzt, mich von ihm nicht mehr so einfach zum Schweigen bringen zu lassen, sondern rede mit ihm offen über Probleme, auch wenn er es nicht so gern hört. Von meiner Mutter will ich mich jetzt ebenfalls gesund distanzieren, was jedoch aufgrund der im Moment nicht so leicht änderbaren Wohnsituation eine schwierigere Aufgabe wird. Möglich sollte es aber auch so sein. Wenn es die Corona-Lage wieder erlaubt, möchte ich mich gerne zum ersten Mal am „Partnermarkt“ beweisen.
Ich weiß noch nicht, wie ich mit der Trauer und dem Neid umgehen soll.
Über Meinungen, Ratschläge und Erfahrungsberichte würde mich sehr freuen.
ich habe mich immer wieder mit Problemen an euch gewandt und habe sehr oft wirklich hilfreiche Ratschläge bekommen - dafür zuallererst: Danke!
Ich bin männlich, 22 Jahre alt und habe vor ca. 2 1/2 Jahren eine Psychotherapie begonnen, die am Anfang nur im Kleinen zu Fortschritten führte. So wurde ich beispielsweise sozial wesentlich weniger gehemmt. Das große Problem mit dem Selbstwert und der Selbstorganisation blieb jedoch vorerst. Der Therapeut kam ziemlich schnell auf mein Verhältnis zu meinen Eltern, besonders das zu meinem Vater, das ich selbst als problematisch empfand.
Also arbeiteten wir uns intensiv am Verhältnis zu meinem zum Kontrollzwang und zur subtilen Bevormundung, Abwertung und Sabotage neigenden Vater ab. Das Verhältnis zu meiner Mutter wurde zwar als zu eng und mit Tendenz zum Partnerersatz beschrieben, jedoch nicht als größtes Problem betrachtet. Allgemein stellte der Therapeut bei mir ein Verhaftetsein in einer Kind-Rolle fest.
Das war für mich nicht immer leicht zu verstehen, fühlte ich mich doch freiwillig in der Distanz zu meinem Vater und in der Nähe zu meiner Mutter, bei der ich nach wie vor wohne.
Meine Eltern sind seit meiner Geburt getrennt und meine Mutter, damals schon 44 Jahre alt, hatte seitdem keinen neuen Partner mehr und seitdem auch nicht mehr regulär gearbeitet. Sie konzentrierte sich voll auf mich und ihre bald alte und kranke Mutter, die 2015 starb. Ich war für sie die Begründung, kein eigenes Leben mehr zu haben und nicht mehr zu arbeiten. Hier sehe ich jetzt, dass sie an meinem ewigen Kind-Status auch ein unbewusstes Interesse hatte und hat, obwohl sie immer das Gegenteil behauptet. Mein Vater, 6 Jahre jünger als meine Mutter, heiratete erneut eine fast 30 Jahre jüngere Frau und zeugte noch einmal zwei Kinder, die jetzt 7 und 6 Jahre alt sind.
Durch das schwierige Verhältnis zu meinem Vater, das durch die einseitige therapeutische Aufarbeitung für mich den Anlass gab, den Kontakt zu ihm weiter zu reduzieren, wurde das Verhältnis zu meiner Mutter in den letzten Jahren wieder etwas enger, obwohl ich mit etwa 18 Jahren bereits auch da eine Abgrenzungstendenz hatte, die sich allerdings wieder in Luft auflöste. Durch bis jetzt drei gescheiterte Versuche zu studieren, während derer ich mehr mit Essen und kurzfristiger Ablenkung beschäftigt war, als mit dem Studium, und die Coronazeit suchte ich möglicherweise Schutz in der Kind-Rolle. Seit dem Beginn der Corona-Krise rutschte ich immer tiefer in eine Depression, die mich seit Oktober 2020 für 6 Monate vollständig lähmte. Während dieser Depression begann ich, öfter zu meinem Vater zu gehen und Kontakt zu ihm und zu meinen Halbgeschwistern zu suchen, deren Existenz ich zu gerne ignorierte und die ich nie schätzen und lieben gelernt hatte. (Es dauerte mehr als ein Jahr nach der Geburt des ersten Kindes, dass ich meiner Mutter davon erzählte und noch weitere 1 1/2 Jahre, bis ich endlich für ein persönliches Zusammentreffen bereit war. Mein Vater tolerierte das - meiner Ansicht nach viel zu lange.) Dadurch wurde mir bewusst, dass sich mein Vater um die zwei Kinder wesentlich mehr kümmert, als er sich jemals um mich gekümmert hat, zumal diese (noch, der Auszug der Mutter mit den Kindern läuft, die Scheidung erfolgte schon 2017) bei ihm wohnen. Damit begann eine intensive Beschäftigung mit meiner Kindheit, deren bisher verdrängte problematische Aspekte ich hier in Stichpunkten darlege:
- Ich selbst hatte (und habe teils noch) durchaus autistische Eigenschaften, die im Rahmen der Therapie auch als solche bezeichnet wurden. Als Kind wurde jedoch keine solche Diagnose gestellt.
- Ich war motorisch ungeschickt und hätte intensive Förderung gebraucht, um die sich jedoch niemand gekümmert hat. Fahrradfahren lernte ich mit 7 oder 8 Jahren, Schwimmen bis heute nicht. Der Sportunterricht war bis zum Abi die Hölle.
- Mein Vater war selten anwesend und übernahm kaum Verantwortung. Er kam vorbei, um Anweisungen zu geben und Druck (speziell mit Schulnoten) zu machen und ging wieder.
- Meine Mutter war schon sehr alt, sozial isoliert, hatte wenig Geld und war mit mir überfordert.
- Mein Vater liebte es, in mir sein kleines Baby zu sehen. Um Fortschritt kümmerte er sich nicht, auch nicht in Bereichen (z.B. Sport), in denen er mir durchaus etwas hätte vermitteln können. Er überließ es meiner Mutter, bemitleidete mich, machte Druck, aber tat selbst nichts.
- Es wurde zugelassen, dass ich bis kurz nach meinem 7. Geburtstag den Stuhlgang in eine Windel verrichtete, obwohl ich diesen in einem ganz normalen Alter kontrollieren konnte. Obwohl ärztlicher und psychologischer Rat eingeholt wurde, wollte niemand für einen radikalen Einschnitt die Verantwortung übernehmen.
- Allgemein wurde meinen Forderungen ein viel zu großes Gewicht verliehen. So wurde mir mit fast 6 Jahren noch ein Buggy gekauft, weil ich nicht gehen wollte und das einforderte.
- Die auffällige Andersartigkeit, Ängstlichkeit und Schüchternheit wurde besonders von meiner Mutter in arroganter Weise als positives Alleinstellungsmerkmal dargestellt. Ich habe mich später ebenfalls mit auffälligen Dingen in Szene setzen wollen und wurde dadurch zum Außenseiter.
- Wurden Ängste zu stark, regelte meine Mutter für mich das Problem, anstatt mich bei der eigenständigen Lösung zu begleiten.
- Die Familie meiner Mutter lud Existenzängste gerne bei mir ab. Mein Vater sprach mit mir hasserfüllt über meine Mutter.
- Ich stand im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit von Erwachsenen, die sich über mich gegenseitig zerrieben. Wirkliches Kümmern war das nicht.
- Ich fühlte mich früh für die finanzielle Situation meiner Mutter verantwortlich und versuchte, der wesentlich wohlhabenderen Verwandtschaft zu gefallen, um Geld zu bekommen.
- Meine Mutter gab ihr Misstrauen gegenüber Kritik und anderen Menschen an mich weiter. Ich war ihr "menschliches Schutzschild" gegen jede Verletzung ihres fragilen Selbstwerts. Sie forderte von mir einen bedingungslosen Zusammenhalt. Sogar Nachfragen von Lehrern bezüglich meiner Ängste stufte ich als feindlichen Akt und nicht als Gesprächseinstieg ein.
- Über Gefühle zu sprechen wurde nicht gerne gesehen und häufig von beiden Elternteilen als Hysterie, Einbildung und Verweichlichung abgewertet.
- Erziehung zur vernichtenden Selbstkritik gehörte zum Alltag. Man konnte es nie so richtig machen, wie es meine Eltern gemacht hätten.
Andererseits führt diese Erkenntnis auch zu tiefer Trauer. Trauer um all die verlorene Zeit, die verlorenen Gelegenheiten zum Kontakt mit Menschen, auch mit meinem Vater und meinen Halbgeschwistern, mit denen der Kontakt, die Fähigkeit zur Abgrenzung und zur Gegenwehr gegenüber manchen Äußerungen meines Vaters vorausgesetzt, sicher nicht unangenehmer gewesen wäre als der zu meiner überbehütenden Mutter, zumal ein Ausgleich elementar wichtig gewesen wäre. Meine kleinen Halbgeschwister können sowieso nichts dafür. Ich habe sie kollektiv „mitbestraft“. Ich trauere nicht zuletzt um die verlorene Kindheit und Jugend voller Ängste und Selbstwertprobleme, die im Rückblick eher wie ein Dahinvegetieren erscheint. Voller Neid blicke ich auf die normale Kindheit meiner Halbgeschwister, die es auch durch das vermehrte Engagement meines Vaters viel besser und unbeschwerter haben als ich, die viel früher auf die Toilette gegangen sind, Fahrradfahren gelernt haben, einen Schwimmkurs besucht haben etc. etc. Manchmal übernimmt mich die Angst, wenn ich denke, was für ein großes Problem diese Dinge bei mir waren.
Ich versuche jetzt, eine 180°-Wende hinzubekommen, um nicht weiter vor der Realität wegzulaufen. Ich suche jetzt einen Ausbildungsplatz, um im Herbst anfangen zu können, wirklich zu leben. Den Kontakt zu meinem Vater werde ich weiterhin suchen und intensivieren. Ich schaffe jetzt, mich von ihm nicht mehr so einfach zum Schweigen bringen zu lassen, sondern rede mit ihm offen über Probleme, auch wenn er es nicht so gern hört. Von meiner Mutter will ich mich jetzt ebenfalls gesund distanzieren, was jedoch aufgrund der im Moment nicht so leicht änderbaren Wohnsituation eine schwierigere Aufgabe wird. Möglich sollte es aber auch so sein. Wenn es die Corona-Lage wieder erlaubt, möchte ich mich gerne zum ersten Mal am „Partnermarkt“ beweisen.
Ich weiß noch nicht, wie ich mit der Trauer und dem Neid umgehen soll.
Über Meinungen, Ratschläge und Erfahrungsberichte würde mich sehr freuen.
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