Ich glaube, wir alle haben die Fähigkeit verloren uns selbst von Außen unbeeinflusst zu betrachten und einzuschätzen. Womöglich haben wir diese Fähigkeit nie besessen. Zwar haben wir den Spiegel, in den wir blicken können, doch die wahre Resonanz, die liefern uns doch die anderen Menschen, denen zu gefallen, uns allen irgendwann einmal Wunsch war, ist oder sein wird. Wie alles andere auch, orientiert sich unser Selbstbild an der Relation, an Maßstäben. Nichts ist wirklich definierbar, wenn es nicht verglichen werden kann - was ist groß, was ist klein, wenn es nur eine einzige Sache mit diesem Charakteristikum der Größe gibt? Wenn es uns möglich ist, eine unbeeinflusstes Selbstbild zu erlangen, dann ist die Erkenntnis, dass wir es bisher nie hatten, sicher der erste Schritt dahin.
Ich bin mir sicher, dass jeder Mensch, der von sich behauptet glücklich zu sein, mit seinem Aussehen, irgendwo ein gewisses gefestigtes Fundament an Anerkennung erfährt oder erfahren hat (durch andere Personen), was nicht einmal auf sein Aussehen bezogen sein muss. Ansonsten gilt: Wer sich hübsch findet, findet das, weil andere es tun - und wenn es nur diejenigen sind, denen er gefallen will.
In unserem Unterbewusstsein sind die Schönheitsideale, die nicht einmal Normen darstellen, manifestiert. Womöglich befinden wir uns in einer Situation, in der wir einander in eine unbehagliche, unnötigerweise konkurrierende Situation manövrieren. Wir sprechen von vermeintlichen Makeln wie Dehnungsstreifen, und dabei hat nahezu jeder Mensch eben solche - ob nun verblasst oder an Stellen, die er selbst nicht sieht. Ich bin kein Frauenheld, aber ich habe genug Körper gesehen, um zu sagen: Allein die Dehnungsstreifen hat so gut wie jeder Mensch. Es geht nicht um die Anzahl, um die Farbe - nahezu jeder ist betroffen. Ich habe sogar welche in den Kniekehlen - und wen soll das interessieren?
Wir machen einander verrückt, schnappen Dinge auf, die wir weitertragen, ohne sie groß zu überdenken. Ich bin allerdings auch der Auffassung, dass die eigentlichen Ideale doch sehr individuell ausfallen, und wir, wenn wir das erkennen und besprechen würden, auch weniger das Korsett dieser gemeinhin propagieren Ideale an uns spüren würden. Ich kenne sehr sehr viele Männer, die einen sehr großen Po an der Frau mögen - Knackarsch? Nein Danke. Und dass ein sehr großer Po auch gewisse Unebenheiten aufweist oder eben Dehnungsstreifen, das ist den Jungs bewusst, und es stört nicht. Ob angemessen oder nicht, ich sage euch, dass ich es persönlich sehr liebe, wenn der Po einer Frau sehr weich ist, und er beim Sex mitschwingt. Das finde ich toll.
Nun ist aber die Frage: Wo wollen wir hin? Welchen Weg wollen wir beschreiten? Möchten wir unser Selbstbild nur an denjenigen Ansichten und Maßstäben orientieren bzw. bemessen lassen, die uns ein gutes Gefühl geben? Oder wollen wir ein wirklich unabhängiges Selbstbild erhalten? Wenn es zumindest um Dehnungsstreifen und ähnliches gilt, kann man zumindest sagen: Ob mit oder ohne, jeder hat seine Interessenten, die das Selbstwertgefühl steigern können. Um unabhängig mit sich im Reinen zu sein, muss man wohl weiter intellektualisieren. Man muss eigene Maßstäbe entwickeln, sie erdenken, sie stützen. Man könnte sich sagen: Ich halte mich für attraktiv, wenn ich charismatisch bin. Charismatische Menschen sind sogar gemeinhin attraktiv, ohne schön sein zu müssen. Ich trage eine kleine Narbe an der Schläfe, und ich finde, dass sie mich nicht schön macht, aber gewissermaßen individualisiert, mir Charisma verleiht. Sie verleiht mir ein Profil, sie lässt mich unterscheiden - ein anderer Mensch "könnte" dieses Profil interessant finden, und ihm näher kommen wollen.
Ich bin unglücklich mit meinem Aussehen. Und wenngleich das nicht wünschenswert ist, so kann ich nicht sagen, dass es schlecht ist. Es ist nämlich nicht so, weil ich mich von den großen Idealen zermürben lasse - meine vermeintlichen "Makel" stören mich selbst wenig. Was mich an mir stört, stört mich nur, weil es andere Menschen stört. Frauen in meinem Alter sind selten reflektiert, leben selten bewusst und selbstkritisch. Eine Vielzahl dieser Frauen rezipiert und befruchtet beispielsweise das Ideal, dass ein Mann groß sein muss, um attraktiv zu sein. Wenn ich hingegen ältere Frauen erfahren, die im Laufe der Jahre ihr Bewusstsein entwickelten, und ihre Ansichten hinterfragten, erlebe ich hingegen einen starken Kontrast - die Größe des Mannes spielt hier keine Rolle mehr; es geht viel mehr um die Persönlichkeit. Ich weiß nicht wieso, aber womöglich lernt man ab einem gewissen Alter einfach worauf es ankommt, und der große sexuelle Kick von einem großen Mann genommen zu werden verfliegt bei dem Wunsch eine aufrichtige und vertrauensvolle Beziehung zu führen, die einem Halt im Leben gibt, wobei die Körpergröße nicht die geringste Rolle spielt.
Meine bisherige Erkenntnis ist also, dass wir alle Ideale vervielfachen und irgendwie schon fast kultivieren, hinter denen wir gar nicht wirklich stehen - die wir nicht aus eigenen Überlegungen heraus entwickelt und gefestigt haben, sondern nur rezipierten. Ich denke, wenn wir alle ein wenig bewusster leben würden, würden diese Ideale verfliegen und die Individualität des Aussehens eine wichtigere Rolle spielen, wenn das Aussehen nicht gar völlig bedeutungslos werden würde. Vielleicht hilft dieses Verständnis dabei, sich selbst nicht mehr dafür zu verurteilen, dass andere Menschen dich "scheinbar" verurteilen und ablehnen.
So oft ich in meinem Leben auch verspottet wurde, so oberflächlich war ich selbst. Ich wies ein wunderbares Mädchen zurück, weil sie mir optisch nicht zusagte - ich bereue das heute sehr. Und ich würde es noch immer bereuen, wenn ich ein hübsches Mädchen fände, dass so ist wie sie. Ich entwickle mich. Ich komme den Menschen näher. Im letzten Jahr habe ich mich in eine junge Mutter verliebt, die optisch mit Sicherheit von ihrer Schwangerschaft gezeichnet ist. Bei den Gedanken ihr nahe zu kommen, habe ich mir sogar gewünscht, dass sie Narben trägt. Ich wollte kein Ideal, ich wollte sie, die Mutter. Ihre Schwangerschaft ist doch eine Art Auszeichnung, sie soll ihre Narben als solche tragen dürfen und wollen. Leider habe ich nie diese Intimität mit ihr erleben dürfen. Ich habe sie nie erfahren dürfen. Aber ich kann sagen, dass ich sie wahnsinnig begehrt habe, obwohl sie von Idealen weit entfernt ist. Ich verliebte mich in sie, in sie als Mutter. Das zeichnete sie aus. Sie wollte ich erfahren. Individualität, körperliche Begierde, die sich über die Persönlichkeits-Wertschätzung entwickelt, lerne ich zu schätzen. Ich bin auf einem guten Weg.