Micha300672
Mitglied
Hallo zusammen,
heute geht’s mal nicht um mich. Aber vielleicht habt Ihr eine Idee, wie ich einer Freundin helfen kann. Ich persönlich bin mit meinem Latein am Ende und vielleicht gibt es auch gar keine Lösung….
Vor über 15 Jahren lernte ich eine Frau kennen, die seit ihrer Geburt gehörlos ist. Sie beherrscht aber die Gebärdensprache und kann auch von den Lippen ablesen. Sie wurde sehr gefördert von ihren Eltern und kommt deswegen eigentlich gut in einer Welt Hörender zurecht. Sie hat Abi gemacht, studiert und arbeitet nun schon fast 30 Jahre als Pädagogin in einem Berufsförderungszentrum, ihr Schwerpunkt sind hörgeschädigte oder gehörlose Jugendliche. Wir verloren uns aus den Augen, erst vor einigen Wochen trafen wir uns wieder. Viel war in unser Beider leben seit damals passiert und so trafen wir uns bisher einige Male, um ums davon zu erzählen.
Was mir damals nicht so auffiel, jetzt aber umso mehr – sie bringt ihre Gehörlosigkeit immer wieder ins Gespräch. Das Interessante ist, dass ich als Hörende nach wenigen Minuten vergesse, dass sie gehörlos ist. Weil sie eben von den Lippen abliest. Natürlich spreche ich in der ersten Viertelstunde des Treffens zu schnell oder drehe beim Sprechen auch mal den Kopf zur Seite, so dass sie mich daran erinnern muss, sie wieder anzuschauen und langsamer zu sprechen. Aber irgendwie klappt das dann sehr reibungslos.
Nun ist es so, dass diese Frau (sie ist mittlerweile 58) sich immer wieder beklagt, dass sie bei mehr als zwei Gesprächspartnern, also z.B. in einer größeren Gesellschaft, nicht mehr zurecht kommt. Dann bräuchte sie einen Gebärdendolmetscher, der pro Stunde ein kleines Vermögen kostet und selbst mit dem ist ein Gespräch mit einer Dauer von mehr als zwei Stunden sehr anstrengend und ermüdend. Sie erzählt z.B. von einem Familientreffen. Da sitzen dann zehn Leute um einen Tisch. Sie kann sich nicht auf alle gleichzeitig konzentrieren, was aber auch ein Hörender meiner Meinung nach nicht kann. Sie beklagt sich nun, dass alle sich untereinander unterhalten, über Witze lachen, sie aber nicht mitbekommt, warum gelacht wird. Sie sagt, wenn sie dann jemanden fragt, was da gerade los war, sagt der/die z.B. „Ach, war nur ein platter Witz. Lohnt nicht, den nochmal zu erzählen.“ Das kränkt meine Freundin und sie hat sehr schnell das Gefühl, ausgegrenzt zu werden.
Meine Idee war nun, ob sie nicht bei einer Gesellschaft mit zehn Leuten einfach mal mit dem- oder derjenigen für eine gewisse Zeit spricht, sich dann jemand Anderem zuwendet. So, dass sie innerhalb eines Abends z.B. zwar mit jedem geredet hat, aber eben nicht innerhalb einer Gruppe. Sie sagt, das klappt nur bedingt. Und ich merke ihr an, wie das nicht ihr Thema ist – sie „verbeisst sich“ in die Unfähigkeit, der Gruppe im Gespräch zu folgen.
Gestern war dann wohl ein Treffen mit Nachbarn aus dem Haus. Es waren insgesamt mit ihr fünf Leute. Schon im Vorfeld hatte meine Freundin die Befürchtung, dass wieder alle miteinander reden, sie aber nicht mitkommt. Im Nachhinein hat es wohl alles relativ gut geklappt, weil sie aber auch direkt zu Beginn des Treffens die Anderen ersucht hat, Rücksicht zu nehmen. Aber dass es so relativ gut klappt, ist eher selten. Ich denke, die Menschen vergessen einfach im Laufe eines Gesprächs, dass meine Freundin gehörlos ist. Weil sie eben im 1-Gespräch keine Probleme hat. Und weil es eben auch üblich ist, in einer Gesellschaft kreuz und quer zu reden.
Meine Freundin ist jedenfalls größtenteils gefrustet, wenn sie mit mehreren Menschen gleichzeitig zu tun hat. Und wird dann auch nicht müde, mir zu sagen, dass sie denen doch mal drei Monate Gehörlosigkeit wünscht, damit die alle mal merken, wie es sich damit lebt.
Mal ein Beispiel dafür, wie meine Freundin ihre Gehörlosigkeit offensichtlich auch ohne einen Zusammenhang zum Thema macht: Ich war mit ihr vor einige Wochen in einem Bücherladen. Ich war dort zum ersten Mal, sie ist Stammkundin. Sie sah sich jetzt um, ich unterhielt mich mit der Verkäuferin über dieses und jenes Buch. Irgendwann kam meine Freundin dazu, stand einfach nur da. Dann warf sie plötzlich ein, dass es ja schwierig wäre für sie als Gehörlose und dass die Menschen da oft keine Rücksicht nehmen. Und dass sie ja selbst mit dem Ablesen von Lippen nur 25% des Gesagten versteht, den Rest kombinieren musste. Was dann kam, fand ich fast schon…. erschreckend. Plötzlich wünschte uns die Verkäuferin einen schönen Tag und hielt uns die Tür auf. Ich hatte das Gefühl, als wolle sie uns loswerden und mir kam der Gedanke, ob sie so eine Situation mit meiner Freundin schon des Öfteren erlebt hatte. Meine Freundin kauft dort nämlich ausschließlich ihre Bücher und wie sich später rausstellte, war der Ehemann der Buchhändlerin einige Jahre der Kollege meiner Freundin.
Dann zeigte mir meine Freundin mal whatsapps, die sie mit ihrer Nichte nach einer Familientreffen geschrieben hatte. Diese Nichte ist Ende 20, kennt ihre Tante also schon lange und ist mit der Problematik vertraut. Und in diesen whatsapps klärt sie ihre Nichte über ihre Gehörlosigkeit und die damit verbundenen Schwierigkeiten auf, als hätte die Nichte null Ahnung. Auch mir gegenüber kommt in jedem Treffen genau das immer als Thema und ich frage mich, ob das nicht auch bei vielen Anderen immer wieder so passiert. Meine Freundin sagt von sich selbst, sie lebt isoliert. Außer den Arbeitskollegen und Schülern hat sie nur wenige soziale Kontakte. Allerdings hat sie auch einen sehr hohen intellektuellen Anspruch, den ihrer Meinung nach so gut wie niemand erreichen kann. Und sie wird nicht müde, zu betonen, wie froh sie ist, allein zu leben. Dann müsse sie sich auch über niemanden ärgern.
Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, aber ich habe das Gefühl, meine Freundin trägt ihre Behinderung wie ein Schild vor sich her. Sie fordert Rücksichtnahme und Toleranz. Hat irgendwie scheinbar die Erwartung, dass sie auch eine ganze Gruppe an ihr Handicap anpasst. Was ich einerseits verstehen kann. Aber andererseits für einen sehr hohen Anspruch halte. Bitte versteht mich nicht falsch – sie hat das Recht, in ihrer Problematik ernst genommen und auch unterstützt zu werden. Aber kann man ihr denn wirklich gerecht werden? Sie hat es zweifelsohne trotz ihrer Behinderung sehr weit gebracht. Sie kann lesen, schreiben, hat Karriere gemacht. Sie kann noch andere Sprachen (Englisch, Französisch) sprechen und verstehen. Sie lebt autark, hat sogar den Motorradführerschein vor einigen Jahren gemacht. Sie „hört“ Musik (spezielle Technik), sie nimmt am Leben teil. Aber ich habe den Eindruck, es fällt ihr schwer, das nicht zu 100% tun zu können, wie es ein Hörender kann.
Ach menno, ich weiß nicht, was ich tun kann für sie und wie ich ihr helfen kann. Sie fühlt sich auch schnell angegriffen, wenn ich Verständnisfragen zum Thema Gehörlosigkeit stelle. Z. B. habe ich mal gefragt, warum denn viele Gehörlose nicht lesen und schreiben können. Da hat sie mich fast gefressen. Wobei es ja logisch ist, dass sie es nicht können. Ich mich aber mit der Materie nicht auseinandergesetzt habe. Erst jetzt, wo meine Enkelkinder sprechen lernten und dann später lesen und schreiben, wurde mir klar, wo der Haken ist. Aber meine Freundin setzt fast schon voraus, dass man sich eingehend mit Gehörlosigkeit und den damit verbundenen Schwierigkeiten auskennt.
Habt Ihr Ideen für mich, wie ich mich verhalten kann wie ich sie unterstützen kann?
Danke schon mal für Eure Antworten und einen schönen Sonntag wünscht
Micha
heute geht’s mal nicht um mich. Aber vielleicht habt Ihr eine Idee, wie ich einer Freundin helfen kann. Ich persönlich bin mit meinem Latein am Ende und vielleicht gibt es auch gar keine Lösung….
Vor über 15 Jahren lernte ich eine Frau kennen, die seit ihrer Geburt gehörlos ist. Sie beherrscht aber die Gebärdensprache und kann auch von den Lippen ablesen. Sie wurde sehr gefördert von ihren Eltern und kommt deswegen eigentlich gut in einer Welt Hörender zurecht. Sie hat Abi gemacht, studiert und arbeitet nun schon fast 30 Jahre als Pädagogin in einem Berufsförderungszentrum, ihr Schwerpunkt sind hörgeschädigte oder gehörlose Jugendliche. Wir verloren uns aus den Augen, erst vor einigen Wochen trafen wir uns wieder. Viel war in unser Beider leben seit damals passiert und so trafen wir uns bisher einige Male, um ums davon zu erzählen.
Was mir damals nicht so auffiel, jetzt aber umso mehr – sie bringt ihre Gehörlosigkeit immer wieder ins Gespräch. Das Interessante ist, dass ich als Hörende nach wenigen Minuten vergesse, dass sie gehörlos ist. Weil sie eben von den Lippen abliest. Natürlich spreche ich in der ersten Viertelstunde des Treffens zu schnell oder drehe beim Sprechen auch mal den Kopf zur Seite, so dass sie mich daran erinnern muss, sie wieder anzuschauen und langsamer zu sprechen. Aber irgendwie klappt das dann sehr reibungslos.
Nun ist es so, dass diese Frau (sie ist mittlerweile 58) sich immer wieder beklagt, dass sie bei mehr als zwei Gesprächspartnern, also z.B. in einer größeren Gesellschaft, nicht mehr zurecht kommt. Dann bräuchte sie einen Gebärdendolmetscher, der pro Stunde ein kleines Vermögen kostet und selbst mit dem ist ein Gespräch mit einer Dauer von mehr als zwei Stunden sehr anstrengend und ermüdend. Sie erzählt z.B. von einem Familientreffen. Da sitzen dann zehn Leute um einen Tisch. Sie kann sich nicht auf alle gleichzeitig konzentrieren, was aber auch ein Hörender meiner Meinung nach nicht kann. Sie beklagt sich nun, dass alle sich untereinander unterhalten, über Witze lachen, sie aber nicht mitbekommt, warum gelacht wird. Sie sagt, wenn sie dann jemanden fragt, was da gerade los war, sagt der/die z.B. „Ach, war nur ein platter Witz. Lohnt nicht, den nochmal zu erzählen.“ Das kränkt meine Freundin und sie hat sehr schnell das Gefühl, ausgegrenzt zu werden.
Meine Idee war nun, ob sie nicht bei einer Gesellschaft mit zehn Leuten einfach mal mit dem- oder derjenigen für eine gewisse Zeit spricht, sich dann jemand Anderem zuwendet. So, dass sie innerhalb eines Abends z.B. zwar mit jedem geredet hat, aber eben nicht innerhalb einer Gruppe. Sie sagt, das klappt nur bedingt. Und ich merke ihr an, wie das nicht ihr Thema ist – sie „verbeisst sich“ in die Unfähigkeit, der Gruppe im Gespräch zu folgen.
Gestern war dann wohl ein Treffen mit Nachbarn aus dem Haus. Es waren insgesamt mit ihr fünf Leute. Schon im Vorfeld hatte meine Freundin die Befürchtung, dass wieder alle miteinander reden, sie aber nicht mitkommt. Im Nachhinein hat es wohl alles relativ gut geklappt, weil sie aber auch direkt zu Beginn des Treffens die Anderen ersucht hat, Rücksicht zu nehmen. Aber dass es so relativ gut klappt, ist eher selten. Ich denke, die Menschen vergessen einfach im Laufe eines Gesprächs, dass meine Freundin gehörlos ist. Weil sie eben im 1-Gespräch keine Probleme hat. Und weil es eben auch üblich ist, in einer Gesellschaft kreuz und quer zu reden.
Meine Freundin ist jedenfalls größtenteils gefrustet, wenn sie mit mehreren Menschen gleichzeitig zu tun hat. Und wird dann auch nicht müde, mir zu sagen, dass sie denen doch mal drei Monate Gehörlosigkeit wünscht, damit die alle mal merken, wie es sich damit lebt.
Mal ein Beispiel dafür, wie meine Freundin ihre Gehörlosigkeit offensichtlich auch ohne einen Zusammenhang zum Thema macht: Ich war mit ihr vor einige Wochen in einem Bücherladen. Ich war dort zum ersten Mal, sie ist Stammkundin. Sie sah sich jetzt um, ich unterhielt mich mit der Verkäuferin über dieses und jenes Buch. Irgendwann kam meine Freundin dazu, stand einfach nur da. Dann warf sie plötzlich ein, dass es ja schwierig wäre für sie als Gehörlose und dass die Menschen da oft keine Rücksicht nehmen. Und dass sie ja selbst mit dem Ablesen von Lippen nur 25% des Gesagten versteht, den Rest kombinieren musste. Was dann kam, fand ich fast schon…. erschreckend. Plötzlich wünschte uns die Verkäuferin einen schönen Tag und hielt uns die Tür auf. Ich hatte das Gefühl, als wolle sie uns loswerden und mir kam der Gedanke, ob sie so eine Situation mit meiner Freundin schon des Öfteren erlebt hatte. Meine Freundin kauft dort nämlich ausschließlich ihre Bücher und wie sich später rausstellte, war der Ehemann der Buchhändlerin einige Jahre der Kollege meiner Freundin.
Dann zeigte mir meine Freundin mal whatsapps, die sie mit ihrer Nichte nach einer Familientreffen geschrieben hatte. Diese Nichte ist Ende 20, kennt ihre Tante also schon lange und ist mit der Problematik vertraut. Und in diesen whatsapps klärt sie ihre Nichte über ihre Gehörlosigkeit und die damit verbundenen Schwierigkeiten auf, als hätte die Nichte null Ahnung. Auch mir gegenüber kommt in jedem Treffen genau das immer als Thema und ich frage mich, ob das nicht auch bei vielen Anderen immer wieder so passiert. Meine Freundin sagt von sich selbst, sie lebt isoliert. Außer den Arbeitskollegen und Schülern hat sie nur wenige soziale Kontakte. Allerdings hat sie auch einen sehr hohen intellektuellen Anspruch, den ihrer Meinung nach so gut wie niemand erreichen kann. Und sie wird nicht müde, zu betonen, wie froh sie ist, allein zu leben. Dann müsse sie sich auch über niemanden ärgern.
Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, aber ich habe das Gefühl, meine Freundin trägt ihre Behinderung wie ein Schild vor sich her. Sie fordert Rücksichtnahme und Toleranz. Hat irgendwie scheinbar die Erwartung, dass sie auch eine ganze Gruppe an ihr Handicap anpasst. Was ich einerseits verstehen kann. Aber andererseits für einen sehr hohen Anspruch halte. Bitte versteht mich nicht falsch – sie hat das Recht, in ihrer Problematik ernst genommen und auch unterstützt zu werden. Aber kann man ihr denn wirklich gerecht werden? Sie hat es zweifelsohne trotz ihrer Behinderung sehr weit gebracht. Sie kann lesen, schreiben, hat Karriere gemacht. Sie kann noch andere Sprachen (Englisch, Französisch) sprechen und verstehen. Sie lebt autark, hat sogar den Motorradführerschein vor einigen Jahren gemacht. Sie „hört“ Musik (spezielle Technik), sie nimmt am Leben teil. Aber ich habe den Eindruck, es fällt ihr schwer, das nicht zu 100% tun zu können, wie es ein Hörender kann.
Ach menno, ich weiß nicht, was ich tun kann für sie und wie ich ihr helfen kann. Sie fühlt sich auch schnell angegriffen, wenn ich Verständnisfragen zum Thema Gehörlosigkeit stelle. Z. B. habe ich mal gefragt, warum denn viele Gehörlose nicht lesen und schreiben können. Da hat sie mich fast gefressen. Wobei es ja logisch ist, dass sie es nicht können. Ich mich aber mit der Materie nicht auseinandergesetzt habe. Erst jetzt, wo meine Enkelkinder sprechen lernten und dann später lesen und schreiben, wurde mir klar, wo der Haken ist. Aber meine Freundin setzt fast schon voraus, dass man sich eingehend mit Gehörlosigkeit und den damit verbundenen Schwierigkeiten auskennt.
Habt Ihr Ideen für mich, wie ich mich verhalten kann wie ich sie unterstützen kann?
Danke schon mal für Eure Antworten und einen schönen Sonntag wünscht
Micha