Zu den wesentlichen, entscheidenden Punkten einer Religion gehören die Werte, die gelebt bzw. vermittelt werden. Das ist bei Ideologien oder politischen, humanistischen Denkgebäuden nicht anders. Millionen von Deutschen stürzten sich in Kriege und folgten ihren Führern. Wurden die alle bereits als Kind zum Nationalsozialismus geprügelt?
Ende 19./Anfang 20. Jahrhundert war die Grundeinstellung der Deutschen zum Leben eine etwas andere als heute. Damals galt es als "größte Ehre eines Mannes", als Soldat "für Reich und Vaterland" den "süßen Heldentod" zu sterben, das wurde mit Schmalz und Kitsch und Zuckerguß verherrlicht bis zum Gehtnichtmehr (einfach mal googeln!), bei Frauen war es irgendwann der Tod im Kindbett (damals noch durchaus häufig), natürlich am besten erst nachdem sie dem jeweiligen Kaiser samt Reich noch ein Rudel Bälger "geschenkt" hatte (was ebenso bewundert und gefeiert wurde), und auch Personen, für die schnöder Militärdienst nicht in Frage kam, adlige Müßiggänger, selbsternannte Feingeister mit zu wenig Muckis auf der Brust oder die "feinen Damen der Gesellschaft" hielten einen Tod in jungen Jahren für eine feine Sache, sofern standesgemäß ablaufend, nämlich am besten durch "vornehmes Dahinschwinden" und "Verblassen" wie eine "Blume im Wind", wenn ein schneller Heldentod im Gefecht nicht drin war. Mittel zum Zweck dafür war die "Schwind"sucht aka Tuberkulose, die damals noch kaum behandelbar war und deshalb meistens auch zum Tod führte, die Blässe und Blutarmut und allgemeine Hinfälligkeit der Schwindsüchtigen wurde ebenfalls romantisch verklärt und verherrlicht, sofern korrekt und "standesgemäß" zelebriert. (Für den untersten Stand, schnöde Arbeiter und Bauern galt das natürlich nicht, die hatten gefälligst zu schuften und durften nicht auf krank markieren. Und, ja, damals galten Standesunterschiede noch!)
Um so schlimmer der Schock des ersten Weltkriegs, als Millionen Soldaten den Horrer der Stellungskriege (Verdun etc.) erlebten und merkten, daß da mit süßem Zuckerguß-Heldentod samt anschließendem Hinwegtragen durch ätherische Engelsgestalten (guckstdu Kitschpostkarten von damals...) nichts war, stattdessen Vegetieren in Schlamm und zerfetzten Leichen in ständiger Angst vor Giftgas und krepierenden Granaten. Diese ganze morbide Einstellung damals entsprang natürlich nicht der Phantasie der eigentlich geistig einigermaßen gesunden Bevölkerung selbst, sondern wurde von oben herab vorgegeben und suggeriert, von Kirchen, Adel, Mächtigen, also genau denen, die davon profitierten, wenn die "Helden" sich freiwillig irgendwo auf einem Schlachtfeld erschießen ließen und die Frauen fleißig Nachwuchs für die zukünftigen Schlachtfelder warfen.
Man sollte meinen, die Leute hätten aus dem Horror von WK Nr. 1 gelernt... hielt aber anscheinend nicht lange vor, die Niederlage im Krieg wurde fleißig für den Revanchismus genutzt, die Demütigungen des Versailler Vertrages taten ein übriges, und die aufkommenden Nazis mit ihrem Wunsch nach Wiederbewaffnung predigten in weit offenstehende Ohren. Mix ein paar Eimer überkommene preußische Tugenden (wie Pflichterfüllung bis zum Sieg oder Untergang) dazu, verhätschle den damals überall verbreiteten und üblichen Antisemitismus, und schon sind die Grundlagen für WK 2 samt Holocaust bereit. Und erst nach diesem zweiten, viel vernichtenderen Krieg waren die Deutsche kuriert, auch weil sie stattdessen amerikanisiert wurden, was ihnen imho gut tat, weil die Amis eben von ihren eigenen Ursprüngen als Siedler und Pioniere, die überleben wollten, nicht "vornehm dahinschwinden", nicht auf dieses selbstmörderische Lemming-Verhalten konditioniert waren.
Wer mehr über die Zustände zur Zeit von WK 1 lesen will, dem sei "Die letzten Tage der Menschheit" von Karl Kraus empfohlen (Wiki-Eintrag lesen!). Gibt es auch als Comic, in der gezeichneten Brühwürfel-Version der Kurzepisoden gewinnt die Bösartigkeit, der Zynismus und die Menschenverachtung aus der Originalfassung noch mehr an Biß. Man lacht zuerst, aber das Lachen bleibt einem immer wieder im Hals stecken. Aus heutiger Sicht ist es absolut unverständlich, wie die Verhältnisse damals wirklich so gewesen sein können, wie die Menschen damals so dumm, so leicht manipulierbar waren, warum sie so unfähig waren, die Strukturen und Autoritäten von eigenen Gnaden (Kaiser & Co.) zu durchschauen und zu hinterfragen. Aber es war nun mal so. Kritisches und unabhängiges Denken war damals noch nicht erwünscht oder gar als Tugend angesehen, auch das kam erst nach dem 2. WK auf.