Er ist Autist. Ernst gemeinte Frage: hast du dich unabhängig von eurer Beziehung mal damit näher beschäftigt? Was Autismus alles ausmacht? Wie Menschen mit Autismus empfinden?
Ein Autist kann mitunter komplett andere Bedürfnisse haben, als "Nicht-Autisten". Vieles, was Autisten hilft oder für sie Sinn macht, ist für Nicht-Autisten komisch oder unlogisch. Viele Autisten wirken fremd, distanziert oder kühl, weil für sie Eigenschaften wie Empathie, Fühlen an sich, Kontaktaufnahme und Emotionen an sich schwierige Themen und große Herausforderungen sein können.
Viele Autisten werden konstant missverstanden, übergangen, verurteilt oder grenzüberschreitend behandelt, weil die Leute in ihrem Umfeld nicht ausreichend über Autismus informiert sind und sich zu wenig bis gar nicht damit befassen. Ich glaube, das liegt auch einfach daran, weil Autismus für viele eine "Modediagnose" geworden ist oder was als Definition viel im Alltag vorkommt. Es ist aber ein wichtiges Thema.
Ich kenne Autisten, die können ihre Kleidung nur mit der Naht umgedreht nach außen tragen, weil sie die Kleidung sonst so schwer ertragen. Was auch ein Grund sein kann, warum sie sich zuhause gerne ausziehen oder nur ganz bestimmte Kleidung tragen. Kenne ich von mehreren in ähnlichen Formen. Es gibt Autisten, die können Essen nur mit einer bestimmten Konsistenz und Geschmack zu sich nehmen, weil sie andersartiges Essen überfordert und eine riesen Reizüberflutung ist. Es gibt auch Autisten, die können sich Gesichter nicht ausreichend merken und zuordnen und aus Scham und Unsicherheit ziehen sie sich zurück oder machen so umständliche Eselsbrücken und Zuordnungen, um Personen wiedererkennen zu können, dass es sie massiv stresst und Kraft kostet.
Dass Autisten oft größere Probleme damit haben, neue Leute kennenzulernen, weil das bedeutet, sich wieder auf einen unbekannten Gegenüber einstellen und mit diesen agieren zu müssen. Wieder ein neuer Mensch, den man einschätzen und kennenlernen muss. Das setzt einige Autisten massiv unter Stress. Gruppensituationen sind für viele Autisten auch riesen Stress. In Schulklassen mit ausgeprägten Autisten gibt es nicht umsonst oft nicht mehr als 10 Kinder.
Dass dein Freund so viel Struktur benötigt, ist für viele Autisten auch vollkommen normal und auch wichtig - daran orientieren sie sich. Oder dass er vieles nur tut oder darauf eingeht, wenn du ihn aufforderst oder darauf hinweist.
Autisten können nicht Gefühle, Emotionen und Mimik deuten und reflektieren wie wir, die nicht von Autismus betroffen sind. Sie müssen es sehr intensiv lernen und manches wird für sie immer ein Rätsel bleiben. Es fällt ihnen schwer, eine Verbindung oder einen Bezug dazu aufzubauen. Das ist ganz wichtig, das zu verstehen und da wertfrei und offen ranzugehen. Ganz wichtig: Autisten haben Gefühle wie wir alle. Sie sehnen sich danach, akzeptiert zu werden und haben Sehnsüchte. Ich erlebe immer wieder, dass viele wegen einem fehlenden Wissen oder Verständnis denken, Autisten haben keine tiefgehenderen Gefühle und haben auch keinerlei Interesse an Akzeptanz oder Kontakt. Autismus ist auch super individuell und vom Einzelfall abhängig, wie sich das ausdrückt und wie Betroffene damit umgehen. Ich kenne Autisten, denen merkst du nur in ganz bestimmten Situationen an, dass sie Autisten sind und dann gibt es welche, die könnten direkt einem Lehrbuch entsprungen sein. Ich erlebe den Kontakt mit Autisten als wahnsinnig bereichernd, berührend und ich lerne immer wieder dazu.
Ich würde dir wirklich ans Herz legen, dich mit Autismus mehr zu befassen und auch mit deinem Partner genauer darüber zu sprechen, wie ER die Welt und sein Umfeld erlebt. Denn es gibt nicht umsonst den Leitsatz "Kennst du einen Autisten, kennst du einen Autisten".
Es gibt Gruppen für Angehörige und Partner von Autisten. Da kann man sich austauschen, da kann man auch Themen besprechen, die man oft nur persönlicher kennt, wenn man mit einem Autisten in einer Beziehung oder mit ihm verwandt oder befreundet ist. Und ich denke, für dich wäre das eine wertvolle Sache. Ich will dir da nicht zu nahe treten, aber vieles, was du beschreibst, sind so "klassische" Missverständnisse und Unsicherheiten, die Angehörige haben, die sich nicht ausreichend über Autismus informiert haben.
Ebenfalls gibt es sehr gute Autoren, die selbst Autisten sind und über ihr Erleben und ihren Alltag schreiben. Da kannst du auch mal reinschauen.
https://leidmedien.de/aktuelles/buecher-ueber-autismus-von-autisten/
Peter Schmidt kann ich dir empfehlen. Der ist ziemlich populär und sehr aktiv, was seinen Einsatz für ein besseres Verständnis für Autisten angeht. Der schreibt auch echt sympathisch, finde ich. Online findest du auch viele Vorträge und Interviews mit ihm. Er ist auch mit einer Frau verheiratet, die nicht Autismus hat. In "Ein Kaktus zum Valentinstag" beschreibt er, wie er als Autist die Liebe wahrnimmt und diese erlebt. Sehr tolles Buch!
Zu deiner Freundin, ich würde ihr nochmal genauer Autismus erklären (Wenn du das noch nicht hast). Viele Menschen reagieren aggressiv oder verurteilend, wenn sie etwas nicht verstehen, es sie verunsichert oder Verhaltensweisen von ihren gewohnten abweichen. Aber: dass sie deinen Partner verurteilt und da so reagiert, geht absolut nicht. Geht auch gar nicht, das direkt als "pervers" hinzustellen, nur weil er anders ist. Das ist verurteilend und gemein. Und ich finde, in einer guten Freundschaft sollte man sich für den anderen freuen und ansonsten Abstand von solchen Denkweisen nehmen, solange der andere glücklich ist und es ihm gut geht. Ich würde in Absprache mit deinem Partner (er muss da natürlich zustimmen und das wissen) ihr sagen, dass er Autist ist. Und ihr erklären, was das für eure Beziehung und ihn bedeutet. Es steht ihr zu, das "komisch" zu finden oder dass es ihr schwer fällt, einen Bezug dazu zu entwickeln. Es ist auch okay, dass sie dein Partner verunsichert oder er halt nicht ihr liebster Freund wird - aber ihn abzuwerten oder zu verurteilen oder dir eine Beziehung, die dich glücklich macht schlecht zu reden, das geht nicht. Das erste Treffen ist schief gelaufen, aber es ist wichtig, darüber zu reden und zu überlegen und eventuelle Unsicherheiten zu klären. Und ihr verständlich zu machen, dass dein Partner nicht "pervers" ist oder rücksichtslos, sondern in diesen Momenten einfach als Autist denkt und handelt, weil er einfach einer ist. Deswegen finde ich es super, dass ein "Neustart" stattfindet und gerade dein Partner da so offen reagiert.
Dass ihr klare Regelungen und Absprachen trefft, ist ganz wichtig. Du solltest auch deinem Partner immer wieder Sachverhalte erklären, die für einen Nicht-Autisten völlig logisch und verständlich sind, für einen Autisten aber eben oft nicht. Da ist es wichtig, ihn dazu zu ermuntern, nachzufragen und anzusprechen, wenn ihn etwas verwirrt oder verunsichert. Viele Autisten schweigen aus Scham oder weil sie denken, sie sind die Doofen und es ist so klar und logisch, dass sie gar nicht nachfragen dürfen. Es ist auch völlig normal bei vielen Autisten, dass man sie ausreichend auf Treffen und Termine vorbereiten muss und das auch mehrmals ankündigt und bespricht. Das alles ist für Autisten wichtig und vieles geht da halt nicht spontan oder ohne vorherige Ankündigung.