Hallo Tayna,
als ich gestern oben die Wäsche machte, nutzte mein Mann die Gelegenheit und sprach mit dem Kleinen. Er gab vor, sich auf Weihnachten zu freuen und wie schön es immer wäre, als Familie den Baum zu schmücken. Natürlich hat er damit sein Vorhaben nicht verfehlt, der Kleine hat letzte Nacht sehr unruhig geschlafen und war auch heute morgen ziemlich verwirrt. Beim Frühstück fragte er mich dann im Beisein seines Papas, wo wir dieses Jahr den Tannenbaum aufstellen würden. Ich zeigte ihm verdutzt die übliche Stelle und er war zufrieden. Unterwegs zur Schule erzählte er mir dann vom Gespräch des Vorabends. Ich beruhigte ihn erst einmal und wünschte ihm viel Glück für seine heutige Klassenarbeit.
Jetzt sitze ich da und kann das alles nicht glauben. Ich kann den Kleinen durchaus verstehen und werde auch sehr sensibel damit umgehen. Aber ich finde das Verhalten meines Mannes nicht richtig. Das hat er schon immer getan, aber mir war es nie so bewusst, wie heute. Er benutzte schon immer die Kinder und deren Emotionen, um mich in die Schranken zu weisen. Zudem hat er noch nie in all den Jahren auch nur einen Finger krumm gemacht, wenn es um Weihnachten oder irgendwelche andere Festlichkeiten ging. Und jetzt hat er den Kleinen total aufgewühlt! Er hätte mit mir reden müssen, statt den Kleinen vorzuschicken. Das traurige ist, dass es noch nicht einmal etwas bringen würde, wenn ich mit meinem Mann darüber reden würde, denn er besitzt keinerlei Schuldbewusstsein. Er hat sich nie für seine Kränkungen und Verhaltensmuster entschuldigt und jegliche Gespräche führten immer nur dazu, dass er sich zu Unrecht behandelt fühlte. Zu seinem Glück war ich jedoch nie nachtragend und schluckte alles runter, denn ich wollte die Familie erhalten und den Kindern ein harmonisches Leben ermöglichen. Dafür nahm ich alles in Kauf und schraubte mich bis auf ein Minimum zurück.
Was mir jetzt zu schaffen macht, ist der Kleine. Er versteht doch garnicht, dass er nur benutzt wurde, um mich zu bremsen. Wie gehe ich jetzt damit um? Mein Mann hat mich mit seiner Aktion tatsächlich zum Wanken gebracht. Auch wenn ich genau weiß, dass dies nur eine seiner Maschen ist, so keimt die Frage in mir auf, welches Übel für den Kleinen tragbarer ist. Ich möchte ihm das lieblose Umfeld ersparen, in dem er sich momentan befindet, habe aber auch Angst, ihn seiner Familie zu berauben. Natürlich fällt auch mir das Ausziehen schwer, denn schließlich gewöhnt man sich sogar an permanent schlechte Zeiten. Aber ich weiß nicht, wie lange ich das noch ertragen könnte. Ich fühle mich ausgelaugt, kaputt, einsam und sehr traurig.
Alles was ich immer nur wollte, war eine Familie. Für mich selbst hatte ich keine Ansprüche, denn ich war nicht wichtig. Ich fand es auch immer schön sagen zu können, dass ich verheiratet bin. Letztendlich verdrehte ich die graue Wirklichkeit stets so weit, dass sie schon wieder gut aussah und ich mich wohl fühlen konnte. Ich habe mir sozusagen eine eigene Gehirnwäsche verpasst und damit hatte er eine perfekte Marionette. Daraus auszubrechen, ist verdammt hart. Aber ich weiß, dass ich nicht mehr bereit bin, in mein altes Verhaltensmuster zurück zu kehren. Nur woher bekommt man sein Selbstbewusstsein zurück? Wie kann man gegen so einen starken Gegner ankommen? Wie gehe ich mit den Sorgen des Kleinen um?
Ich hoffe, dass du und die anderen Leser mir noch einmal helfen könnt, meine Gehirnwindungen zu sortieren.
LG, Nele911