Ich hab noch nie einen Feind geliebt, hab auch nicht das Bedürfnis danach.
Ich glaube, das Bedürfnis beginnt bei jedem Menschen damit, sich selbst zu lieben. Wenn man sich dem angenähert hat, dann kommt irgendwann auch die Erkenntnis, dass diese Liebe so groß ist, dass sie auch für andere reicht.
Verstehe ich so, daß man andere so respektieren und achten soll wie sich selbst. Sprich: wer sich selbst liebt, achtet, respektiert, wird irgendwann Verständnis auch für "Feinde" entwickeln und ihnen gegenüber mit demselben Respekt handeln, den man für sich selbst möchte. Beste Voraussetzung für ein friedliches Miteinander.
Aber "Liebe" im Sinne von: "Ah, ich hab euch alle lieb!" - ne, ich glaub da haben viele Jesus-Interpreten und Guildo Horn irgendwas nicht ganz realistisch eingeschätzt.
Vor einigen Jahren habe ich mal eine Engelseinführung gemacht. Das ist so eine Art Meditation, eine Öffnung des eigenen Ichs gegenüber den Engeln, die uns begleiten und beschützen. Während der Meditation spürte ich plötzlich eine kaum zu beschreibende Freude, ein Angenommensein, eine tiefe Liebe. Die bedingungslose Liebe.
Vielleicht kennst du die Geschichte vom kleinen Lord, der Film, den sie immer an Weihnachten zeigen? Der kleine Lord Fauntleroy erweicht das Herz des kalten, griesgrämigen Großvaters, indem er das Gute in dem alten Mann sieht und ihn voller Unschuld liebt.
Auch unsere Feinde haben eine liebenswerte Seite und es liegt in unserer Hand, aus der Gewaltspirale auszusteigen.
Das jedenfalls ist das anstrebendswerte Ideal.
Es geht aber auch noch um etwas Anderes. Etwas, das für viele Menschen schwer zu verstehen ist und mit dem ich normalerweise auch nicht hausieren gehe. Es ist eben eine ganz eigene Weise, das Universum zu sehen.
Alles im Leben hat einen Sinn. Wir durchleben eine Inkarnation, um Erfahrungen zu sammeln und da wir einen freien Willen haben, haben wir uns diese Erfahrungen ausgesucht und Gott darum gebeten, dass wir sie machen dürfen und er an unserer Seite ist, um uns beizustehen, um uns zu trösten.
In einem Leben bin ich Täter, in einem anderen Opfer. Und wenn ich Opfer bin, braucht es einen Täter. Also verabrede ich mich mit einer anderen Seele, die für mich zum Täter wird. Es ist also wie ein Theaterspiel, ein Rollenspiel.
Man kann dem Täter auf der Bühne nicht verzeihen, aber man kann dem Schauspieler dankbar sein, dass er diese Rolle übernommen hat.
Ich liebe also nicht meinen Feind, aber ich kann dem Schauspieler der Figur des Feindes dankbar dafür sein, dass er das Leben in Dunkelheit gewählt hat, um mir die Erfahrung zu ermöglichen, Opfer zu sein.
Je mehr du in dein irdisches Leben verwoben bist, umso weniger kannst du das Gesamtbild wahrnehmen. Es gibt aber kein "höher, schneller, weiter". Es ist nicht das Ziel unseres Lebens, das Gesamtbild wahrzunehmen. Es ist das Ziel, jene Erfahrungen zu sammeln, die wir machen wollten. Und das ist in dem einen Leben die reine Erfahrung, Opfer zu sein und im nächsten Leben einen mehr spirituellen Blick auf die Erfahrung (oder umgekehrt).
Wenn du dich von deiner Rolle als Opfer lösen kannst, hast du auch die Möglichkeit, den Lebensweg des Anderen zu betrachten und verstehst, warum dieser ist, wie er ist. Das war immer ein wenig mein Fluch. Ich war schon als Kind emphatisch und spürte immer den Schmerz und die Verzweiflung hinter den Taten der Anderen.
Wenn ich geschlagen wurde, habe ich nie meinen Schmerz gefühlt sondern den meiner Mutter und ich habe mehr um sie geweint als um mich. Ihr Leid war immer greifbarer als meins und darum habe ich ihr wieder und wieder verziehen. Das ist erst gebrochen, als sie am Grab meiner Schwester stand und sie beschimpft hat. Aber da ging es auch nicht um mich sondern um meine Schwester und deren Leid konnte ich ja auch wahrnehmen.
Ich überschreite mit dem Vertändnis für den Schmerz der Täter meine eigenen Grenzen und tue mir damit nicht gut, aber wenn man selbst an einen Punkt der Heilung kommt, wo man sich selbst wieder wahrnehmen und schätzen kann, dann kann man auch seine Feinde auf eine gesunde Weise lieben.
Liebe ist eigentlich bedingungslos.
Ganz besonders sieht man das ja oft an der Liebe eines Haustiers zu seinem Frauchen/Herrchen. Die nehmen einen ja auch so, wie man ist.
Tuesday