Hallo liebe Lena,
ich habe eine Tochter in Deinem Alter, der es ähnlich geht wie Dir. Sie kommt mit dem Freund ihrer Mutter auch schlecht zurecht. Ständig streiten sie sich wegen falschen Formulierungen, ungerechter Behandlung oder was auch immer. In der Schule lief es auch nicht so gut, weil sie immer wieder von anderen Schülerinnen ausgegrenzt oder gehänselt wurde und ich dann auch einschreiten mußte, weil die blauen Flecken überhand nahmen. Sie hat jetzt die Schule gewechselt und in der neuen Klasse findet sie keinen Anschluss, ihre beste Freundin hat gestern die Schule verlassen und jetzt steht sie alleine auf dem Schulhof. Wenn ich nur daran denke, wird mir ganz anders. Wir haben Gespräche mit der Schulpsychologin und dem Vertrauenslehrer hinter uns gebracht, aber geholfen hat es noch nicht wirklich. Manche Dinge brauchen ihre Zeit.
Diese Alpträume kennt meine Tochter auch seit Jahren. Jeden 3. Tag steht sie mitten in der Nacht in meinem Schlafzimmer und mag nicht mehr ins Bett. Wir haben dafür unsere "Kroko-Geschichten" entdeckt. Meine Tochter hat immer wieder geträumt, von einem Krokodil ziemlich mies behandelt zu werden, um das einmal etwas nett zu umschreiben. Wenn das wieder passierte, haben wir uns in der Nacht noch in ihrem Bett zusammengesetzt und uns lustige Geschichten überlegt, z.B. dass ein großes Nilpferd dem Kroko auf den Schwanz gestanden ist und es abhauen mußte, oder dass eine Affenbande es mit Kokonüssen beworfen hat, bis es blaue Augen bekam oder (die Lieblingsgeschichte meiner Tochter) dass ein großer Elefant es mit seinem Rüssel so lange geschüttelt hat, bis das Frühstück wieder heraus kam und es von wütenden Ameisen gebissen wurde. Was ich Dir damit sagen will: Du kannst Deine Träume selbst beeinflussen. Heute träumt meine Tocher noch immer von diesem Krokodil, aber meistens ist es auf der Flucht. Sprich mit jemandem über Deine Träume. Auch ich hatte als Kind schreckliche Alpträume, bis mir meine Oma mit 12 einen Bären geschenkt hat, den ich noch heute habe (nein, nicht in meinem Bett) und ich bin 55 (ok, jetzt ist es raus). Als er neben mir saß, wurden die schlimmen Träume weniger. Leider haben viele Kinder solche schlimmen Träume, aber was hilft, ist darüber reden und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Mit der Zeit kannst Du Deine Träume sogar selbst steuern. Stell Dir vor dem Schlafengehen mit Deiner ganzen Phantasie vor, was in Deinen Träumen an coolen Sachen passieren soll. Erfinde für die schlimmen Episoden ein neues Ende, über das Du lachen kannst. Das ist jetzt kein Quatsch oder nur spaßig von mir gemeint, das funktioniert wirklich! Du musst es nur einige Male üben. Mit 14 konnte ich im Traum fliegen und in der Luft schwimmen. Das war richtig cool. Es heißt: Träume sind nur Schäume. Sie haben meistens nichts mit der Realität zu tun. Lies Artikel darüber im Internet, beschäftige Dich damit und werde zur Traumexpertin. Die wirst sehen, das hilft.
Dass es mit "dem Neuen" (ja, er scheint ja nicht mehr so neu zu sein, ist ok) Deiner Mutter nicht klappt, kann verschiedene Ursachen habe. Im Grunde schreibst Du ja schon, dass Du ihn einfach nicht leiden kannst. Er ist irgendwie fremd, benimmt sich vielleicht manchmal, als ob er Dein Vater wäre, wird von anderen Leuten mit Deinem Vater verwechselt und das mag Dir auch etwas peinlich sein. Da gibt es so viele nervige "Kleinigkeiten", die aber in der Summe eben keine Kleinigkeiten mehr sind. Meine Tochter hat sich einmal unter vielen Tränen bei mir entschuldigt: "Du Papa, ich habe zu XXXXX Papa gesagt und habe mich dafür so geschämt, weil Du doch mein Papa bist". Als ich gesehen habe, wie arg das meiner Tochter war, liefen mir auch die Tränen herunter. Ich musste fast uns beide trösten: "Ist nicht schlimm, ein Wortverdreher ändert niemals etwas daran, dass Du meine Tochter bist und ich Dein Papa, das kann nichts und niemand!" Mir wurde klar, dass sie sich vorkam, als ob sie mich verraten hätte und das war natürlich nicht so. Manchmal verplappern wir uns eben und das ist nicht schlimm.
Wenn Sie mir dann von den vielen anderen Dingen erzählt (sie hat den Frühstückstisch gedeckt und er hat behauptet, er hätte das gemacht. Sie erfährt nicht mehr alles, weil die Erwachsenen sie ausschließen, ihre Mama hat weniger Zeit für sie, und so weiter) dann sitze ich manchmal auch ratlos da und kann sie nur in den Arm nehmen. Aber eines ist trotzdem ganz wichtig: Deine Mutter liebt Dich, denn Du bist ihr Kind und sie liebt auch Deine Halbgeschwister und ihren Ehemann. Manchmal musst Du das einen Menschen "zugute halten". Das soll heißen: Du magst ihn oft nicht, aber Deine Mutter mag ihn und weil Du Deine Mutter magst und willst, dass es ihr gut geht, kannst Du ihn vielleicht auch ein wenig, nur ein ganz kleines bißchen akzeptieren, damit es für Deine Mutter etwas leichter wird. Denn irgend etwas muss sie ja auch an ihm gut finden, oder? Ich hoffe, ich habe das nicht zu kompliziert geschrieben und Du konntest es verstehen.
Wenn Du etwas über Suizid-Gedanken schreibst, gehen bei allen Erwachsenen die Alarmlampen los und es herrscht wilde Aufregung, weil das für alle Eltern das Schlimmste und Entsetzlichste ist, was ihnen passieren kann. Dagegen sind die schlimmsten Alpträume ein Zeichentrickfilm wie die "Pinguine von Madagaskar". Schieb das ganz weit von Dir, denn das bringt über Deine ganze Familie grausames Leid und nimmt Dir jede Chance. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass die Zeit zwischen 8 und 25 manchmal furchtbar und ausweglos erscheint. Aufzuwachsen ist nichts für Weicheier. Jeden Tag dazuzulernen, manches einfach noch nicht zu wissen, aber eben doch vieles sehen und spüren: das passt immer wieder garnicht zusammen und tut zuweilen einfach nur weh. Doch ich muss und darf Dir leider sagen, dass auch das zu den Lektionen des Lebens gehört, die jeder Mensch lernen muss: manchmal müssen wir mit unserem Schmerz eine gewisse Zeit leben, um zu lernen, mit ihm besser umzugehen. Durch Deine Alpträume kannst Du andere Kinder mit solchen Alpbträumen besser verstehen und ihnen vielleicht sogar helfen. So geht das Wissen von Generation zu Generation weiter und Dein Leid bekommt manchmal einen Sinn. Verstehst Du, was ich meine?
Siehst Du, jetzt ist mein Text recht lang geworden. Ich hoffe, Du bist darüber nicht eingeschafen.
Schreib hier ruhig von Deinen Sorgen und Fragen. Du hilfst damit, auch anderen darüber nachzudenken und für sich selbst Hilfe zu finden. Du bist also auch für uns damit eine Hilfe. Danke dafür.
Wir kennen uns nicht, aber trotzdem liebe Grüße vom Grauen Bären