Mir wäre es, ehrlich gesagt, auch scheißegal gewesen, ob ich von einem Onkel, zu dem ich jahrzehntelang keinen Kontakt hatte, etwas erbe.
Meine Mutter und ihre Schwestern hatten aber sehr früh ihre Eltern verloren und waren dadurch traumatisiert. Sie behaupteten dann, die Geschwister ihrer Eltern hätten ihnen damals alles genommen. Ich frage mich allerdings, was bei denen vor rund 90 Jahren überhaupt zu holen gewesen sein soll. Mein Opa war ein einfacher Fabrikaufseher (wohl so eine Art Vorarbeiter), meine Oma hatte keinen Beruf erlernt. Meine Großeltern dürften höchstens ein paar alte, sicher nicht wertvolle Möbel und vielleicht noch etwas Christbaumschmuck besessen haben. Und falls ihre Eheringe ihnen vor der Beerdigung überhaupt vom Finger genommen worden waren, werden diese auch nicht wer weiß wie wertvoll gewesen sein.
Aber zumindest meine Mutter und ihre jüngste Schwester haben sich in ihre Emotionen hineingesteigert. Ihnen fehlten wohl Erinnerungsstücke an ihre Eltern. Als dann Jahrzehnte später der Bruder ihrer Mutter starb, wurde das Gefühl, von anderen Miterben übervorteilt zu werden, offenbar wieder getriggert.
Meine Mutter erzählte auch immer, ihre jüngste Schwester hätte in der Schule so gute Aufsätze geschrieben und auch noch in anderen Fächern Einsen auf dem Zeugnis gehabt. Eine Lehrerin hätte meine verwaiste Tante damals gefragt, ob denn kein Verwandter bereit sei, ihr den Besuch des Gymnasiums zu ermöglichen oder wenigstens Kost und Logis bis zum Abitur. Dann würde die Lehrerin sich für ein Stipendium für meine Tante einsetzen. Vielleicht hätte sie dann später selbst Lehrerin werden können. Die Verwandten waren aber nicht dazu bereit. Noch schlimmer war aber wohl, dass meine Tante nach dem Abschluss der Volksschule gar keinen Beruf erlernen durfte, sodass sie später nur schlecht bezahlte Gelegenheitsarbeiten als Putz- oder Küchenhilfe oder Kartenverkäuferin im Kino verrichten konnte. So etwas wurde mir als Kind und Jugendliche auch von meiner Mutter immer voller Abneigung gegen die "blöden" Verwandten meiner Großeltern erzählt.
Aber die blöden Verwandten schickten ja nicht mal ihre eigenen Kinder zum Gymnasium. Auch diese gingen nur zur Volksschule, und die Mädchen bekamen danach auch keine Berufsausbildung ("Die heiraten ja sowieso"). Als die drei älteren Schwestern meiner Mutter in dem Alter für die weiterführenden Schulen waren, lebten meine Großeltern außerdem noch. Sie haben aber auch keine dieser älteren Töchter zum Gymnasium geschickt. Davon, dass sie meine Mutter oder deren jüngste Schwester mit den guten Aufsätzen zum Gymnasium geschickt hätten, bin ich nicht überzeugt. Wahrscheinlich wäre es ihnen in der Hinsicht keinen Deut besser gegangen, wenn die Eltern länger gelebt hätten.
Die einzige Tochter der jüngsten Schwester meiner Mutter hat übrigens auch nur die Hauptschule besucht und hatte auch nie Ambitionen, sich in ihrem Beruf weiterzuqualifizieren. Wundert mich sehr, wenn ihre Mutter doch so gern zum Gymnasium gegangen wäre. Der Sohn meiner Cousine ist auf der Realschule zweimal sitzen geblieben und musste dann zur Hauptschule wechseln.
Meine Mutter und ihre jüngste Schwester konnten den viel zu frühen Verlust ihrer Eltern emotional offenbar nur bewältigen, indem sie sich in einen irrationalen Hass gegen die (meisten) Geschwister ihrer Eltern hineinsteigerten. Als es dann Jahrzehnte später vermeintlich was zu erben gab, ging die Leier wieder los: "Die haben uns doch schon damals betrogen und uns alles weggenommen."
Das ist krankhaft. Mit rationalen Argumenten und Logik ist dem auch nicht beizukommen. Das einzige, was hier geholfen hätte, wäre eine Psychotherapie gewesen, um den frühen Verlust der Eltern zu verarbeiten.
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