Hallo Fetzbold,
vielen Dank fürs Teilen deiner Erfahrungen! Das klingt im großen & ganzen echt gut!
Ja, erzählte gerne etwas mehr zu der Begrifflichkeit der "Charakterfehler", bzw. wieso das dort noch steht und welche Gedanken / Erfahrungen du dazu hast.
Ich kann mir denken, dass das eine alte Begrifflichkeit ist, die heute mehr irritiert und verurteilend wirkt, als sie früher gemeint war, da in der modernen Pädagogik nicht mehr so gesprochen und hoffentlich auch nicht mehr allzu doll so gedacht wird.
Hier liegen zweierlei Missverständnisse vor: Einerseits sind die 12 Schritte Programme nicht pädagogischer Natur oder von Pädagogen entwickelt und andererseits ändert ein geänderter Begriff nichts an der Realität, wie sie gelebt und erlebt wurde. Im Englischen wird von "Defects" gesprochen, wobei die Übersetzung als Charakterfehler auch nicht unumstritten ist innerhalb der Gruppen.
Dazu muss man auch erwähnen, dass die 12 Schritte von und für Alkoholiker konzipiert wurden und später für Drogensüchtige adaptiert wurden. Der Kontext innerhalb der Schritte spielt auch eine erhebliche Rolle. Es geht einfach nicht, nur das eine Wort der "Charakterfehler" raus zu picken und sich daran aufzuhängen ohne ein Verständnis des Programms. Die 12 Schritt fungieren außerdem als aufeinander aufbauende Schritte, so wie eine Leiter. Du steigst ja auch bei einer Leiter erst auf die erste Stufe, dann auf die zweite Stufe usw. Wenn du bei einer Leiter versuchst aus dem Stand auf die 7. Stufe zu steigen, dich dabei verrenkst, ausrutscht und hinfällst, dann ist ja auch nicht die Leiter schlecht, sondern die Herangehensweise.
So viel zum Grundgedanken der 12 Schritte.
Die Charakterfehler werden übrigens zu erst in Schritt 6 erwähnt, davor stehen wesentliche Aspekte, die zum Verständnis beitragen, nämlich:
Schritt 1: Die Einsicht eine Krankheit zu haben und auf sich alleine gestellt nicht dagegen anzukommen.
Schritt 2: Die Einsicht, dass es etwas Größeres gibt, eine höhere Macht sozusagen. Nicht zwingend Gott im religiösen Sinn, sondern nur eine Sache, die größer als die eigene Person ist.
Schritt 3: Eine Entscheidung dafür, dass dieses Größere dabei helfen kann "clean" zu bleiben (von Alkohol, von Drogen, von schädlichen Verhalten etc.)
Schritt 4: Offen und ehrlich auf sich schauen und dabei auch das eigene Fehlverhalten gegenüber anderen Menschen und der Gesellschaft zu betrachten.
--> Wichtig: Schau dich mal im Forum um nach Threads über Alkoholiker, Drogenabhängigen, deren Angehörigen oder depressiven Menschen. Diese Menschen tun sich selbst viel Schlechtes an, schaden ihren Familien, Frauen, Kindern, Arbeitgebern, stehlen, betrügen, lügen, verletzen usw. Das sind alles Folgen von Sucht. Depressive stehlen und betrügen vielleicht nicht, aber schaden oft genug sich selbst durch SVV.
Schritt 5: Hier teilt man das Fehlverhalten aus dem vierten Schritt, um sich selbst von dieser Scham und Schuld moralisch befreien zu können.
--> Ich kenne Süchtige, die sich hinter dem Bahnhof für den nächsten Schuss in den Ar*** haben f*ck*n lassen oder die ihre kranke Oma um Geld betrogen haben. Im Clean sein kommen diese Erinnerungen wieder und belasten das eigene Gewissen. Es geht hier nicht um völlige Transparenz gegenüber Gott oder einem anderen Menschen, sondern um die Befreiung von moralisch empfundener Schuld.
Schritt 6: Die erste Erwähnung dieser Fehler als Charakterfehler und die ehrliche Bereitschaft und Aufgeschlossenheit mithilfe der höheren Macht von diesen Fehler befreit zu werden.
Unabhängig davon, ob ich dich überzeugt habe, sieht man hier die Komplexität der Schritt und auch deren Inhalte. Das Thema von Fehlverhalten spielt für viele Menschen eine Rolle, die Selbsthilfegruppen besuchen.
Meine Erfahrung bezieht sich auf Süchtige, aber denke über Schwierigkeiten von Depressiven z.B. nach, die zu EA kommen wollen. Ich lese hier oft die Selbstzweifel oder Selbstgeißelung, wenn man mal wieder einen Tag im Bett verbracht hat, den Termin nicht wahrgenommen hat, sich geritzt hat oder sich anderweitig verletzt hat. Diese Verhaltensweisen sind real und führen zu realen Gewissensbissen bzw. moralisch empfundener Schuld. Ob man sie jetzt Charakterfehler oder Verhaltensweisen oder Upsalas nennt, spielt bei der realen Empfindung keine Rolle.
Die Schritten bieten allerdings einen Weg damit umzugehen.
Allerdings möchte ich auch sagen, dass die Arbeit an den Schritten oder auch nur die Auseinandersetzung damit keine Pflicht für den Besuch der Schrittgruppen sind. Ich selbst habe jahrelang lediglich die Gruppen besucht, manchmal von mir selbst etwas geteilt und oft anderen Menschen nur zugehört.
Das erscheint mir für Menschen mit Themen wie Selbstwertgefühl, Scham oder soziale Ängste genau das Falsche zu sein.
Ich habe eine andere Erfahrung. Ein Mensch mit Selbstzweifeln wird seine Selbstzweifel nicht los, indem er Bestätigung und Rückmeldung von anderen erhält. Wäre dem so, würden Selbstwertprobleme keine große Rolle spielen in der Gesellschaft. Ein unsicherer Menschen wird nicht sicherer, indem ich ihm sage "Hey, sei nicht so unsicher, du bist cool".
Der Weg dieser Gruppen besteht darin sich über eine Einsicht zu bessern. Indem ich nur von mir rede, brauche ich keine Angst vor dem Urteil anderer haben. Vor allem bleibe ich komplett innerlich offen, indem der nächste nicht sagt "Du musst das und dies tun". Meine Erfahrung ist, dass ich innerlich ziemlich schnell zu mache und abblocke, wenn wir jemand erzählen will, was ich zu tun habe, um mein Problem zu ändern, vor allem wenn ich nicht gefragt habe.
ohne eine Rückmeldung zu bekommen,
In diesen Gruppen erzählt jeder nur von sich selbst und damit ist es auch möglich, dass jemand, der dasselbe Problem hat, von seinem Umgang mit diesem Problem spricht und somit die Einsicht in anderen Menschen ermöglicht.
Das heisst z.B. ich rede davon "Ich habe Problem A und habe dieses und jenes Gefühl dazu. Ich leider ziemlich stark darunter, dass...." und ein anderer könnte beispielsweise von sich teilen "Ah, dieses Problem hat mich angesprochen, ich hatte vor Jahren auch mal das Problem A, allerdings habe ich einen Weg gefunden damit umzugehen. Wenn mir heute Problem A begegnet, dann kann ich damit ziemlich schnell fertig werden, indem ich dies und jenes tue"
Dass jeder nur von sich selbst spricht, heisst nicht, dass es ein unzusammenhängendes Gebrabbel ist, in dem du keine neuen Erkenntnisse sammeln kannst.
nur in Verbindung mit irgendeinem religiösen, esoterischen oder sonstwie ideologischen Kokolores
Die 12 Schritte Gruppen sind kein religiöses, sondern ein spirituelles Programm. Spiritualität hat jedoch nichts mit Esoterik oder Ideologie zu tun, sondern mit der Auseinandersetzung auf geistiger Ebene. Meditation ist ein anderes Beispiel für eine spirituelle Handlung. Achtsamkeit, Atmen, Tanzen kann alles spirituell sein, selbst Yoga und Tai Chi hat spirituelle Aspekte. Nichts davon ist Ideologie oder esoterisch.