Wir haben dieses gesellschaftliche Ideal, dass Menschen als stark und bewundernswert gelten, wenn sie nach Schicksalsschlägen positiv sind. Mich hat das bei meinem eigenen Schicksalsschlag extrem unter Druck gesetzt, weil ich dachte, ich müsste das alles jetzt zwanghaft positiv sehen und habe etliche Übungen in die Richtung gemacht. Es war dann so eine Erlösung, als jemand zu mir sagte: "Nein, was dir passiert ist, ist sch**** und du darfst das alles jetzt auch sch**** finden!" Und danach hatte ich die Phase, in der ich nicht mehr versucht habe, alles positiv zu sehen, in der ich nicht mehr versucht habe, gegenüber anderen nur die guten Sachen zu erzählen. Nach einer Weile, in der es es mir schlecht ging, habe ich dadurch das Tal durchschritten und meine Stimmung verbesserte sich von selbst wieder. Es funktioniert einfach nicht, sich andere Gefühle einreden zu wollen, als man hat.
Ein bisschen davon habe ich in den Alltag mitgenommen. Wenn der Zug mal wieder ausfällt, dann ist das Mist. Punkt. Und dann mache ich keine psychologischen Verrenkungen, um mir einzureden, dass das eigentlich gar nicht so schlimm ist. Das bedeutet nicht, dass ich mich da hineinsteigere, ich ziehe dann einfach sehr zügig meine Konsequenzen daraus.
Ja, da hast du wirklich Recht.
Es ist natürlich nicht gut und gesund, an allem und jedem nur das Schlechte zu sehen, das kann auf Dauer sehr verbittert, depressiv und einsam machen.
Aber dauernd zwanghaft positiv drauf sein wollen, und sich keine Zeit und keinen Raum zum Trauern, Streiten oder auch zum Ärgern zu gönnen, kann genauso ungesund sein.
Es gibt mittlerweile auch Psychologen und Therapeuten, die sich kritisch mit dem sogenannten Positiven Denken befassen, weil sie in ihren eigenen Praxen die negativen Auswirkungen dieser einseitigen Denkart an betroffenen Klienten sehen.
Schon Ende der 90er Jahre hat ein Psychologe und Psychotherapeut deshalb ein Buch mit dem schönen Titel "Positives Denken macht krank" geschrieben, in dem er sich kritisch mit den Begründern des Positiven Denkens wie z.B. Carnegie, Murphy und anderen auseinandersetzt, und wo er seine Kritik mit guten Beispielen aus dem Alltagsleben und Fallbeschreibungen untermauert.
Und wo er gleichzeitig auch andere, seriösere Therapiemethoden vorstellt...
Vor allem ist bei diesem absolutistischen positiven Denken wie bei Autoren wie Murphy auch noch ein kräftiger Schuss Esoterik dabei.
Der behauptet z.B. mehrmals in seinen Büchern so haltlose Dinge wie "wer sich reich fühlt, und sich so verhält als ob er es schon wäre, wird reich werden."
Oder noch schlimmer:"Armut ist kein Schicksal und auch nicht gottgegeben, sondern eine von vielen geistigen Erkrankungen(!!?), die durch negatives Denken verursacht wird..... es gibt keine unverschuldete Armut."🤮
Und dabei gibt es jede Menge Menschen, die sich gerade dadurch in den Ruin gestürzt haben, eben weil sie so "gelebt haben, als wären sie reich"....
Oder die Behauptung vieler positiver Denker, daß man wenn man sich positiv und immer freundlich zu anderen verhält, dadurch von anderen auch positive Gefühle zurück bekommt, stimmt ja nun auch nicht immer!
Der Autor des oben erwähnten Buches hatte z.B. eine stark übergewichtige Klientin, die aufgrund der Lehrsätze ihres Lieblingsautors Carnegie sogar auf Beschimpfungen wie "du blöde fette Kuh" freundlich und nett reagiert hat.
Was natürlich nicht dazu geführt hat, daß diese Leute dann netter zu ihr wurden, eher im Gegenteil.
Eine andere Frau, die gefragt wurde warum sie sich nicht gegen ihren gewalttätigen Partner gewehrt hätte, gab zur Antwort daß sie gelesen hätte, daß sie statt dessen liebevoll reagieren müsste, um damit auch bei dem sogenannten Partner Liebesgefühle zu erzeugen.
Inzwischen gibt's für dieses einseitig positive Denken ja auch den schönen englischen Begriff "Toxic Positivety", und obwohl ich den Begriff "toxisch" langsam nicht mehr hören kann, finde ich doch daß das hier ganz gut passt....