Liebe Gästin,
wie Stella schon schrieb - der Tod ist nicht fair. Andererseits ist auch nichts fairer als der Tod. Er macht keinen Unterschied zwischen Arm und Reich, er fragt nicht nach Herkunft, nach Alter. Er kommt zu jedem - irgendwann. Aber wenn er zu früh kommt, dann empfinden wir das als unfair. Dabei müsste die Frage doch heißen: Ist die Krankheit, die dazu führt, dass er früher kommt fair? Die ist es nicht. Krebs ist eine verdammt unfaire Krankheit. Ein paar entartete Zellen, die wie kriminelle unreife Jugendliche im Körper randalieren sorgen dafür, dass irgendwann im schlimmsten Fall das ganze System zusammenbricht. Sie richten Schaden an, wo sie gehen und stehen. Sie wandern durch den Organismus, bilden neue Banden (Metastasen) und irgendwann ist der Körper zur Aufgabe gezwungen. Diese Zellen sind so empathielos, dass sie nicht mal kapieren, dass sie am Ende selbst mit draufgehen. Wenn es dann soweit ist, kann der Tod auch ein Freund sein. Weil er dem Terror des Krebses und damit dem Leiden ein Ende setzt.
Bis ein Mensch und seine Angehörigen aber an dem Punkt sind, dem Leiden ein Ende durch den Tod zu wünschen, ist da die Hoffnung auf Heilung. Dass vielleicht doch eine Medizin oder Therapie dem Krebs ein Ende setzt. Manche Menschen wenden sich alternativen Heilmethoden abseits der Schulmedizin zu. Nicht selten geraten sie an Quacksalber und Scharlatane, die sich die Taschen füllen auf Kosten kranker Menschen und ihrer Familie. Aber wie heißt es so schön: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Hoffnung ist ein Gefühl, welches auch dann noch bleibt, wenn der Verstand schon längst kapiert hat, dass es keine Heilung mehr gibt. Manchmal vernebelt Hoffnung erfolgreich unseren Verstand - umso mehr wirft uns der Tod (der eigentlich absehbar war) dann aus der Bahn. Und nach einer Zeit der Trauer kommt dann der Verstand und sagt: "Es war absehbar. Du hast Dich blind gestellt und darüber vergessen, was in den letzten Wochen und Monaten wirklich zählte. Abschied zu nehmen. Ehrlich zueinander zu sein - dem Kranken und den anderen Nahestehenden gegenüber. So viele Worte blieben ungesagt. Jetzt bleibst Du zurück mit ihnen. Dabei hätte es doch sicher geholfen, sie auszusprechen." Und wieder kommt eine Zeit der Trauer. Um die ungesagten Worte, um die ungetanen Dinge...
Dein Expartner scheint seine Lage schon recht realistisch eingeschätzt zu haben, wenn er Chemo ablehnt. Und es scheint, als wolle er den Rest seiner Zeit bewusst erleben. Dazu gehören dann leider nicht nur die guten Tage, wo der Schmerz auszuhalten ist und es für kurze Zeit scheint, als wäre doch alles in Ordnung. Diese Zeit, in der er bewusst am Leben teilnimmt sind die Tage, die es möglich machen können, auch den Tod und das Danach anzusprechen. Was glaubt er, kommt danach? Was glaubt Ihr Anderen? Welche Wünsche und Hoffnungen sind da verbunden mit der Zeit nach dem Tod? Spielt Zeit danach noch eine Rolle? Für den, der stirbt, nicht mehr. Aber was ist mit denen, die bleiben? Was verändert sich in ihrem Leben durch den Tod?
Ich habe lange im Seniorenheim Menschen ehrenamtlich besucht und auch im Sterben begleitet. Mir ist aufgefallen, dass gläubige Menschen dem Sterben und Tod leichter begegnen. Eben aus ihrem Glauben heraus, dass mit dem Tod nicht das Ende kommt. Nur ein Kapitel geht zu Ende, das Buch geht weiter.
Wieder Andere sind sich sicher: Das war's dann - danach kommt nichts mehr. Ende aus - körperlich und geistig.
Vor ein paar Tagen sprach ich mit einer Frau, deren Mann sich im verg. Dezember das Leben genommen hat. Sie kam nach Hause, nichts ahnend und fand ihn vor - mit zerschossenem Kopf. Dass Depressionen tödlich sein können, hat sie wohl geahnt. Dass sie es bei ihrem Mann sind, musste sie dann aus dem Nichts heraus feststellen. Auf meine Frage, ob sie gläubig ist, antwortete sie: "Nicht im religiösen Sinne, denke ich. Aber das, was uns Menschen ausmacht, das kann doch nicht einfach weg sein. Die physische Hülle zerfällt. Aber unser ICH, das muss noch irgendwo sein. Manchmal fühle ich, dass er noch da ist. Das macht mir keine Angst. Es ist gut zu wissen."
Zu guter Letzt möchte ich Dir erzählen von meinem Vater. Er hatte ebenfalls Krebs, die letzten Wochen seines Lebens waren eher ein langsames Zerfallen und Dahinvegetieren. Er aß nicht mehr, bekam Flüssigkeit subkutan zugeführt. Die randalierenden Zellen hatten sich wohl auch in seinem Gehirn breit gemacht, jedenfalls war er nur noch selten klaren Verstandes. In diesen klaren Phasen fragte er immer wieder, was denn los sei mit ihm und wir sollten ehrlich zu ihm sein. Also haben wir ihm ein ums andere Mal erklärt, dass es keine Heilung mehr gibt für ihn. Dass er sterben wird, aber dass er keine Angst haben muss vor Schmerzen. Dass wir bei ihm sind und dass wir auch nach seinem Tod gemeinsam die Dinge so fortführen, wie er es sich wünscht (es gibt ein Haus und einen großen Garten, die versorgt werden müssen. Und er machte sich auch Gedanken, wie es mit seiner Frau/unserer Mutter weitergehen würde). Bis zuletzt hat er sich über den Besuch seines Urenkelchens gefreut, welches zu diesem Zeitpunkt neun Monate alt war. Und so wurde das Sterben Teil unser aller Lebens. Auch Fröhlichkeit und Humor hatten in dieser Zeit Platz an seinem Krankenbett. Wir hatten sehr gute, palliativ ausgebildete Ambulantpflegekräfte mit ihm Boot, die nicht auf die Uhr sahen bei ihrer Arbeit. Die sich nach der Pflege auch mal mit meiner Mutter auf eine Zigarette hinsetzten und nach ihrem Befinden fragten. Die letzten 24 Std. waren absehbar, mein Vater schien nicht mehr bei Bewusstsein. Er reagierte nicht mehr auf Ansprache, auf Berührung, selbst das Setzen der Infusionsnadel bekam er (scheinbar) nicht mehr mit. An seinem Sterbetag rief mich meine Mutter morgens um 3 Uhr an, dass es wohl jetzt zuende geht. Also wir uns Auto - meine Partnerin und ich - und die zwei Km. zu meinen Elternhaus. Da lag er - schwer atmend, eher röchelnd. Da ich mich schon länger intensiv mit dem Prozess des Sterbens auseinander gesetzt hatte, wusste ich, dass diese Atmung für Angehörige als quälend empfunden wird. Für Sterbende jedoch nicht so erlebt wird. Seine Atempausen waren recht lang, seine Atmung unregelmäßig. Also saßen wir da an seinem Bett, ich hielt seine Hand. Gut eineinhalb Stunden saßen wir da, gesprochen wurde wenig. Sicher waren wir alle - jede für sich - damit beschäftigt, die Zeit seiner Atemaussetzer zu schätzen. Und uns zu fragen, ob er aus diesem Schlaf einfach so in den Tod gleiten wird. Ich gucke ich gerade so im Zimmer um, in Gedanken verloren, als meine Mutter mit antippte und mit dem Kopf zum Bett wies. Da sah ich meinen Vater, die Augen geöffnet - was er seit 24 Std. nicht mehr getan hatte. Sein Blick schien erstaunt und erwartend. Nicht ängstlich. Kein Schmerz war zu sehen. Als blicke er jemandem oder etwas entgegen, wer oder was auf ihn zukommt. Ein wenig fragend, aber auch erstaunt. Und eben gar nicht ängstlich. Ich habe ihm dann eine Hand auf den Brustkorb gelegt, die Andere auf die Stirn. Und ihm gesagt, er solle einfach weitergehen, das sei in Ordnung so. Und er bräuchte keine Angst haben. Dann hat er die Augen wieder geschlossen. Es kamen noch zwei, drei Atemzüge - der letzte war ein Ausatmen. Sein Herz schlug noch gut eine Minute weiter, aber auch die Herzschläge wurden unregelmäßig. Irgendwann dann der letzte Herzschlag... und es war gut. Da war nichts als .... Friede? Ja, das könnte das richtige Wort sein. Er hatte es geschafft. Was wir uns für ihn seit Wochen erhofft hatten, war jetzt eingetreten....
Seit diesem Moment, als er da so erwartungsvoll und erstaunt wohin auch immer blickte (nein, ich fand nicht, dass er einfach nur die Zimmerdecke anstarrte), ist für mich klar: Da kommt noch was. Und es ist nichts Schlimmes, was uns Angst machen muss. Somit scheint Raymond A. Moody mit seinem Büchern über Nahtoderfahrungen und die Erlebnisse bei der Begleitung Sterbender die gleichen Schlüsse gezogen zu haben wie ich - nur schon Jahre vorher und auf vielfältigere Art und Weise.
Ich bin dankbar für diese Erfahrung, die ich da machen durfte. Angst vor dem Tod habe ich keine. Und vor dem Sterben auch nicht, da niemand mehr dank palliativer Medizin leiden muss.
Und ja - 36 Jahre ist kein Alter zum Sterben. Die Mitte des Lebens gerade erreicht, jetzt käme eigentlich eine Zeit in ruhigeren Fahrwassern. Die eigenen Kinder kommen ins Jugendlichenalter, man selbst hat eine gewisse Gelassenheit entwickelt und die kleinen Katastrophen des Lebens entlocken uns ein amüsiertes Grinsen - keine Nervenzusammenbrüche mehr wie vielleicht noch fünf oder zehn Jahre zuvor. Und dann kommt eine Diagnose, die alles auf den Kopf und in Frage stellt. Die so viele Gefühle auslöst - keins davon positiv. Die Zeit "danach" hat Elisabeth Kübler-Ross sehr gut beschrieben.
Meine liebe Gästin, in dieser Zeit befindet Ihr Euch jetzt: Der Erkrankte und die Kinder, Freunde, Partnerin. Patentrezepte dafür gibt es keine. Euren Weg durch diese kommende Zeit müsst Ihr selbst finden. Zwar gibt es das ein oder andere Hinweisschild an den Kreuzungen Eures Weges, aber keine Kreuzung führt ins Falsch oder Richtig. Der Weg muss gegangen werden, ein Zurück gibt es nicht. Aber auch für diese Wanderung gilt wie für alle Anderen im Leben: Packt Euren Rucksack weise. Nehmt mit, was ihr wirklich braucht. Packt ihn nicht zu voll oder zu schwer. Lasst zurück, was ihr unterwegs als hinderlich oder unbrauchbar wahrnehmt. Ihr müsst jetzt ohne Karte und Navi zurechtkommen, aber seid gewiss - Ihr kommt an. Jeder an seinem persönlichen Ziel. Jeder am gleichen Ziel, aber doch an einem Anderen. Mal geht Ihr ein Stück gemeinsam, mal jeder für sich. Weil jeder von Euch anders ist, anders fühlt und anders denkt. Ich wünsche Euch allerdings Einigkeit in der Entscheidung, offen und ehrlich zu sein und den Weg miteinander bewusst zu gehen. Weil einer von Euch am gemeinsamen Ziel noch ein paar Schritte weitergeht und Euch zurücklassen muss. Und ihr ihn gehen lassen müsst. Ich wünsche Euch, dass Ihr ihn gehenlassen könnte mit der Gewissheit, dass es ihm gut geht da, wo er sein wird. Hinter der Zeit.
Liebe Grüße und fühlt Euch umarmt
Micha