Was du über deinen Sohn schilderst, erinnert mich ungemein an einen kleinen Jungen, den ich einmal in meiner Kindergruppe hatte. Der war auch eher ein Denker. In der ersten Klasse war das ein fröhlicher kleiner Junge, der gerne in die Schule ging und auch in unserer Gruppe viel Spaß hatte. Leider änderte sich das in der zweiten Klasse. Er wirkte sehr zurückgezogen und ging häufig mit gesenktem Kopf durch das Schulhaus. Ich habe ihn mir mehrmals zur Seite genommen, weil mich das beunruhigt hat. Leider hat er mir den wahren Grund nie genannt. Er hat sich jedesmal höflich für das Gespräch bedankt und auch gesagt, dass es ihm gut getan hätte, aber was wirklich los war habe ich von ihm nicht erfahren - bis eines Tages die Mutter vor mir stand und mir berichtete, dass er in seiner Klasse gemobbt wurde. Und das ausgerechnet von einem Jungen, mit dem er im Kindergarten schon befreundet war und der auch bei uns in der Gruppe war.
Offensichtlich fand das alles auch noch unter den Augen der Lehrkraft statt, aber so geschickt, dass diese den wahren Ursprung nicht erkennen konnte. Man glaubt ja gar nicht, was so kleine Kerls schon drauf haben können. Nun gut, ich habe die Mutter des anderen Jungen angerufen und ein Gespräch für eine Woche später mit beiden Jungs und beiden Müttern vereinbart.
In dieser Zeit habe ich das Mobbinopfer und seine Mutter gecoacht. Der Junge bekam einen Mutstein und mehrere Mutmachbriefe von mir und der Mutter habe ich eingeschärft, dass sie ihren Sohn so auf das Gespräch vorbereiten soll, dass er dem "Täter" selbst sagt, was nicht in Ordnung ist an dessen Verhalten und wie er sich damit fühlt.
Das Gespräch verlief gut. Die Mütter waren beide in der Statistenrolle. Es stellte sich heraus, dass der "Täter" das "Opfer" nur so getrietzt hat, weil das "Opfer" halt anders und nicht so wild war wie er selber. Ihm war gar nicht bewußt, was sein Verhalten bei dem "Opfer" alles ausgelöst hat, er hat die Andersartigkeit nur nicht verstanden.
In der Folgezeit gab es mit den Jungs noch mehrere Gespräche, um zu gewährleisten, dass die Situation zwischen den beiden stabil blieb. Als dann das "Opfer" zum ersten Mal den Termin vergessen hatte, wusste ich, dass die beiden mich nicht mehr brauchen.
Das ehemalige "Opfer" ist jetzt übrigens in der dritten Klasse und gerade dabei, in die vierte zu springen. Vom Intellekt her steckt er nämlich alle seine Klassenkameraden ganz locker in die Tasche.
Was ich dir damit sagen will: Möglicherweise hast du ein ganz cleveres kleines Kerlchen, dem die wilden Spiele der anderen Jungs nicht wichtig genug sind, weil er besseres zu tun hat.
Deinem Sohn wünsche ich zu jeder Zeit sensible und wachsame Lehrkräfte oder auch andere erwachsene Personen, die erkennen, wann es an der Zeit ist, regulierend einzugreifen, aber ihn auch dazu ermutigen, selbst etwas zu tun, damit sich seine Situation dauerhaft ändern kann.
Alles Gute
Sisandra