Ich habe übrigens vor einigen Jahren mal vergeblich versucht, ein Telefonat mit ihr in eine Richtung zu lenken, die beiden Lebensweisen ihre Berechtigung geben sollte. Habe damals gesagt, dass es auch in meiner Behörde solche Vorruhestandsregelungen gebe, die von vielen Beschäftigten auch in Anspruch genommen würden. Allerdings gebe es auch den umgekehrten Fall, dass Beschäftigte über ihre reguläre Ruhestandsgrenze hinaus Dienst tun würden. Dabei schilderte ich den Fall einer Vorzimmerdame, die noch bis 66 oder 67 gearbeitet hatte (allerdings dann auf Teilzeitbasis); sie wollte lieber einen gleitenden Übergang in den Ruhestand. (Finanziell darauf angewiesen war sie nicht, nach allem , was ich gehört habe. Sie und ihr Mann hatten eine schöne ETW, der Mann bekam auch eine gute Rente).
Anstatt dies einfach als eine von mehreren Möglichkeiten zu akzeptieren und sich über die Vielfalt der Gestaltungsmöglichkeiten zu freuen, kam von meiner Cousine aber gleich eine Bemerkung, die ich als abwertend empfunden habe: Dann hätte "diese Frau" bestimmt nichts anderes, womit sie sich im Ruhestand sinnvoll beschäftigen könne, kein eigenes Haus, keinen großen Garten, keine Enkelkinder (im Gegensatz zu ihr natürlich). Dabei handelte es sich um eine sympathische, in unserem Hause sehr geschätzte Vorzimmerdame.
In Wirklichkeit wollte meine Cousine nach meinem Empfinden wahrscheinlich nur MIR "einen mitgeben", weil auch ich ja weder Haus noch Garten oder eigene Familie habe.
Genauso wird auch immer betont, wie schön ihre Weihnachtsfeste zu Hause mit den Enkelkindern doch seien. Wenn man Familie habe, sei Weihnachten zu Hause am schönsten. Dass es auch Leute gibt, die dann vielleicht lieber in ein schönes Hotel fahren (wie es mein früherer Abteilungsleiter mitsamt seiner Tochter einige Jahre lang nach dem frühen Tod seiner Frau getan hat), ließ sie nicht gelten. Und dass ich selbst nicht in einer Familie Weihnachten feiern kann, weiß sie ja auch; also wollte sie nur sticheln.
Aber ob ich Weihnachten in einer Familie feiern kann oder nicht, spielt für mich überhaupt keine Rolle. Ich bin praktizierende Christin, für mich ist Weihnachten das Fest von Christi Geburt und weder ein Familienfest noch ein verkitschtes "Fest der Liebe". Daher trübt es meine Vorfreude auf Weihnachten in keiner Weise, wenn ich dann mit meinem Freund allein bin. Unsere Eltern sind beiderseits tot, er hat keine Geschwister, ich habe zu meiner psychisch kranken und krankheitsbedingt uneinsichtigen, bösartigen Schwester keinen Kontakt mehr, weil ich sonst daran zugrunde gehen würde. Mit Familie habe ich außerdem keine positiven Erfahrungen gemacht, daher lege ich auch keinen gesteigerten Wert darauf. Für die meisten Familienmenschen ist Weihnachten doch ohnehin nur Stress, was sie Aufwändiges kochen und wann sie zu den Eltern oder Schwiegereltern fahren, damit niemand beleidigt ist. Das habe ich meiner Cousine allerdings nicht gesagt, weil ich mehr Taktgefühl besitze als sie.
Ihre Art zu leben, ist die einzig richtige und wertvolle. Sie hat - im Gegensatz zu mir und anderen eher beruflich orientierten Frauen - die wahren Werte erkannt und genießt ihr erfülltes Leben. Leuten, die anders leben, wird unterschwellig vermittelt, dass sie bemitleidenswerte Looser sind, denen nichts anderes übrig bleibt, als sich ihren Beruf schön zu reden. Leute, die keine eigene Familie haben und die beruflich ambitionierter sind als sie, braucht sie nicht zu respektieren, denen fühlt sie sich überlegen.
Aber wenn man das so sehr betonen muss, dann stecken wahrscheinlich doch Minderwertigkeitsgefühle dahinter.