Das Thema Schuld ist eine komplexe Angelegenheit. Ich habe für mich selber meine eigene Definition dafür geschaffen:
Eine Schuld ersten Grades ist für mich etwas, was aus böser und hinterhältiger Absicht heraus geschehen ist, in dem vollen Wissen, dass das entsprechende Verhalten nicht in Ordnung ist.
Eine Schuld zweiten Grades ist für mich etwas, wo ich nicht nachgedacht, nicht hingeschaut oder nicht eingegriffen habe.
Eine Pseudoschuld ist für mich etwas, wofür ich keine Verantwortung trage, worauf ich keinen Einfluss habe und was ich auch nicht ändern kann.
Wenn ich jemanden überfalle, ihm Gewalt antue oder ihn mobbe, ist das für mich eine Schuld ersten Grades. Ich würde mir mich sehr schuldig fühlen, zu einhundert Prozent schuldig und mir das nie verzeihen können. Aber auch hier gilt es zu differenzieren. Hat mich jemand lange gequält und ich tue ihm Gewalt an, weil ich nicht mehr kann, ist das anders zu bewerten als wenn ich es aus Sadismus heraus tue oder um mich zu bereichern.
Auch bei der Schuld zweiten Grades gibt es Unterschiede. War ich alt genug, um den Ernst der Lage wirklich erkennen zu können? Hatte ich zu jenem Zeitpunkt die nötigen Einsichten und die nötige Reife gehabt? Wäre es damals wirklich für mich möglich gewesen, die Situation angemessen zu erfassen und einzugreifen? Wie war ich damals selber drauf gewesen? Ging es mir gut oder war ich selber mit den Nerven fertig und am Ende meiner Kräfte? Auch diese Situation der Schuld zweiten Grades ist hochkomplex und extrem schwer zu bewerten.
Und dann gibt es die Pseudoschuld, die man ganz und gar von sich abweisen kann und auch von sich abweisen muss. Wenn ich nicht so bin wie die Eltern sich das gewünscht hätten, ist das nicht meine Schuld und ich brauche es mir auch nicht zum Problem zu machen. Es ist das Problem der Eltern, nicht meines. Wenn jemand schwer erkrankt, ist das bedauerlich, da habe ich Mitgefühl, aber es ist nicht meine Schuld, ich brauche sie mir auch nicht anzulasten. Es ist Schicksal. Ich würde mir auch nicht einreden lassen, dass ich schuld an der Erkrankung wäre, weil ich auf meine Weise gelebt habe und nicht so, wie der Erkrankte das für richtig hielt. Ich trage auch keine Schuld, wenn ich etwas nicht haben möchte, was andere nicht haben können, aber haben wollen. "Andere Kinder wären froh, wenn sie das hätten." Das mag sein, aber deshalb trage ich dennoch keinerlei Schuld, weil ich eben keinen Hunger habe.
Große Teile der Schuld, mit der wir uns abquälen, sind eine Pseudoschuld, wo es um Dinge geht, die gar nicht in unserer Macht und Verantwortung liegen. Das muss man erkennen und lernen, sich davon loszulösen.
Der Umgang mit Schuld und Schuldgefühlen ist extrem komplex, jeder einzelne Fall ist einzigartig und muss ganz neu und aus sich heraus betrachtet werden. Bei allen Schuldgefühlen, die wir haben, müssen wir immer differenzieren, inwieweit wir verantwortlich waren, inwieweit unser Handeln in unserer Macht stand, wie unser derzeitiger Kenntnisstand war und in welchem emotionalem Zustand wir uns befunden haben. Viele Fragen um unsere eigene Schuld herum begleiten uns ein Leben lang und sind wesentliche Lebensthemen. Diese Verarbeitung ist eine immense Arbeit.
Wichtig ist auch, sich zu verdeutlichen, dass Gefühle niemals eine Schuld und niemals falsch sind. Gefühle sind, wie sie sind, wir können sie uns nicht aussuchen und sie haben ihre Ursachen. Verantwortlich sind wir für den Umgang mit unseren Gefühlen. Wir müssen lernen, sie uns einzugestehen, sie zuzulassen und sie aufzuarbeiten und uns nicht von ihnen zu Handlungen verleiten zu lassen, die eine Schuld darstellen würden.