Hallo ra1n,
ich glaube dass diese Fragen, die du da stellst, schon ein sehr gutes Zeichen sind. Du möchtest offenbar eigene Antworten finden und gibst dich nicht mehr fraglos mit den angebotenen Konzepten zufrieden. Das kann man so interpretieren, dass da ein Ich heranwächst, dass einmal fest in sich selbst gegründet und selbstbewusst sein kann!
Sollte ich meinem Gefühl vertrauen oder doch auf das hören, was man mir sagt? Und weiter Pillen schlucken, die eh nicht helfen...
Und meine nur Gefühle unterdrücken.
Diese Aussagen nehme ich mal als Beispiel. Hier prallen offenbar zwei Weltverständnisse aufeinander: Einmal gibt es die Sichtweise, dass sich alle seelischen Vorgänge und die damit verbundenen Problemstellungen im Grunde auf chemische Mechanismen zurückführen lassen, bzw. in ihrem Wesen nichts weiter sind als eben naturalistisch beschreibbare Prozesse. Dem entgegen steht eine Auffassung, dass Lebensprobleme und auch seelische Erkrankungen etwas mit Sinngebung und im weiterem Sinne philosophischen Fragestellungen zu tun haben und Gefühle eben doch viel mehr sind als bloße Produkte von Hirnkreisläufen. Die Frage, wie es
wirklich ist wird immer unentscheidbar sein, da eine solche Definition damit steht und fällt, was wir als wirklich Seiendes bezeichnen und was nicht.
Man kann sagen: Lebensprobleme zeigen sich in materiellen Prozessmuster ebenso wie in philosophischem (ich habe grade kein besseres Wort) Fragen, wobei sie auf der ersten Ebene auch nur dann als solche zu erkennen sind, wenn sie mit introspektiv wahrgenommen Fragen der Sinngebung zusammengeführt werden können.
Du hast mit deinem zitierten Wiederspruch gegen die Pillen in sofern recht, als das du keine entgleisende Hirnchemie erlebst, sondern depressiv gefärbte Gedanken und Stimmungen, die sich in bestimmten Weltanschauungsperspektiven und Fragen äußern können. Da dies eben die einzige Ebene ist, die dir als Subjekt zur Verfügung steht, kannst du nur hier in einem intensiven Frage- und Suchprozess zu Antworten gelangen, die dir Halt und Trost spenden. Nur auf dieser Ebene kannst du jemals lernen, mit einer seelischen Erkrankung selbst fertig zu werden und resistent zu werden. Daher ist meine persönliche Überzeugung, dass wann immer es möglich ist, ein introspektiver, sprich geisteswissenschaftlich orientierter Zugang zu Lebensproblemen einer medikamentösen Behandlung vorzuziehen ist. Manchmal geht es aber natürlich auch nicht ohne Medikamente.
Diese Zusammenhänge im Hinterkopf können wir nun beginnen, über die von dir angesprochenen Begriffe wie etwa "Ich" oder "krank" nachzudenken. Was ist eigentlich krank? Eine sehr gute und extrem vieldimensionale Frage! Aus einem sehr begrenzten Blickwinkel ist Krankheit vielleicht eine Abweichung von einer Norm, also was "man" in bestimmten Situationen üblicherweise denkt und fühlt. Aber was folgt daraus? Muss der "Kranke" lernen, seine Denk- und Fühlprozesse dem Durchschnitt anzupassen? Oder steckt in Krankheitssymptomen nicht vielmehr ein unausgesprochener Protest gegen unsere moderne Art zu leben? Verzichtet eine Gesellschaft nicht auf wertvolles Feedback, wenn sie den Begriff der "Krankheit" erfindet und schottet sie sich damit nicht gegen eigentlich lange notwendige Veränderungen ab? Und wie ändert sich dieser Zusammenhang, wenn statt einiger weniger Menschen plötzlich immer mehr Individuen "erkranken"?
Über all diese Dinge wurde von vielen großen Dichtern und Denkern bereits eine Menge geschrieben. Vielleicht findest du, was du suchst, auch außerhalb von Arztpraxen etwa in Kunst, Literatur und Musik.