Lieber Mercure,
auch ich habe sehr sehr lange an dieser Krankheit gelitten, mehr als 10 Jahre, und auch bei mir hat es in der Pubertät angefangen. Inzwischen bin ich gesund. Es ist leider viel zu wenig über diese Krankheit bekannt und daher scheint eine Heilung oft sehr sehr weit weg.
Ich würde dir gern Hoffnung geben, insofern, dass ich dir versprechen kann, dass es möglich ist, sich vollständig zu befreien. Bei mir war die Symptomatik ebenfalls sehr stark ausgeprägt: In jeder ansatzweise spiegelnden Oberfläche habe ich mich überprüft und zwischenzeitlich Spiegel absolut gemieden, bin nur im Dunkeln ins Badezimmer, habe mich gehasst und mich isoliert. Hatte dazu schwere Depressionen.
Inzwischen mag ich mich, innerlich und äußerlich, ich liebe das Leben und bin (überwiegend) ein glücklicher Mensch. Hätte ich nie gedacht.
Deshalb möchte ich dir einmal beschreiben, was mir geholfen hat. Vielleicht kannst den ein oder anderen Aspekt auf dich selbst anwenden.
Das Problematische an der Dysmorphophobie ist, dass der Fokus sehr zwanghaft auf dem Äußeren liegt. Da nichts von irgendwoher kommt, hat auch das Gründe. Die Krankheit ist eine Projektion und hilft hervorragend bei der Verdrängung schmerzhafter innerer Konflikte.
Indem der Körper "schuld" daran ist, unglücklich zu sein, muss man nicht wahrnehmen, in welchen Bereichen des Lebens womöglich große Defizite bestehen. Meiner Erfahrung nach gibt es große Überschneidungen zwischen Dysmorphophobie und sozialen Ängsten. Eine Dysmorphophobie kann diese Ängste gut maskieren. Man muss sich nicht eingestehen, Angst zu haben. Das Problem ist schließlich (vermeintlich) der Körper und der lässt sich nur begrenzt verändern. So kann man sich weiter verstecken (teilweise wortwörtlich, je nach Ausprägung der Krankheit) ohne sich dem Schmerz stellen zu müssen. ABER: So bleibt man auch stecken.
Schmerz und Angst zeigen uns schließlich, dass etwas nicht so läuft wie es sollte und dass wir Dinge in unserem Leben verändern müssen. Wenn wir diese wichtigen Gefühle nicht spüren, nehmen wir uns dadurch die Möglichkeit zur Veränderung.
Du hast geschrieben, dass du sozial sehr isoliert bist. Das wäre ein möglicher Ansatzpunkt. Wenn ich dich frage, warum das so ist, würdest du wahrscheinlich sagen "Ja, aber nur, weil ich so hässlich bin!". Und da sind wir wieder bei der Verdrängung. Ich vermute, du ziehst dich nicht wegen deinem Aussehen zurück, sondern weil es dir schwer fällt, Kontakte zu knüpfen und zu halten, aus welchen Gründen auch immer (Gefühle der Unzulänglichkeit, Ängste, ...).
Auch in der Therapie redest du mutmaßlich v.a. über dein Aussehen, deine Wahrnehmung, wie du das einschätzt, ob andere das vielleicht doch anders sehen und diskutierst mit deiner Therapeutin über diese Dinge. All das kenne ich von mir selbst. Hat mir das weiter geholfen? NEIN! Für den Moment hilft es vielleicht etwas, wenn dir jemand deine katastrophale Wahrnehmung widerlegt, aber es ändert nichts an den viel tiefer liegenden Problemen, die durch die Krankheit hervorragend umgangen werden und die die Krankheit letztlich aufrecht erhalten.
Wichtig wäre meiner Meinung nach, in der Therapie den Fokus nicht auf den Äußerlichkeiten zu belassen, sondern wirklich über das zu reden, was in deinem Leben vielleicht nicht ganz so rund läuft. Zu ergründen, warum das so ist. Und daran zu arbeiten.
Wie gesagt, ich vermute, dass es auch bei dir in Richtung mangelnde soziale Teilhabe / soziale Ängste gehen könnte. Je mehr du am Leben wieder teilnimmst, desto mehr tritt die Symptomatik in den Hintergrund, der Krankheit wird allmählich der Nährboden entzogen. Zumindest war es bei mir so.
Hier also eine Auflistung von ein paar Dingen, die mir geholfen haben:
1) Die Krankheit durchschauen. Sich bewusst machen, dass man projiziert und dass die eigentlichen Probleme woanders liegen.
2) Sich sozialen Situationen stellen statt sich weiter zurückzuziehen. Gelegenheiten (z.B. Einladungen von anderen) wahrnehmen, lernen, die unangenehmen Gefühle auszuhalten und diese allmählich Schritt für Schritt zu überwinden. Oft treffen die Befürchtungen, die man hatte, gar nicht zu. Das kann eventuell vorhandenen Ängsten/Unsicherheiten den Zündstoff nehmen.
3) Sport! Sport ist eine wunderbare Sache für das eigene Körpergefühl und das Selbstbewusstsein. Hier ist es allerdings wichtig, eine Sportart zu wählen, die sich eben NICHT auf das Äußere fokussiert. Bodybuilding wäre z.B. eher kontraindiziert. Ich meine Sportarten, die sich mehr darauf fokussieren, was dein Körper kann (und nicht wie er dabei aussieht). Und es sollte dir natürlich Spaß machen. Das kann alles mögliche sein; Kampfsport, Bouldern, Calisthenics, Handball, Tischtennis, ... Im Idealfall etwas, wo du gleichzeitig potentiell andere Menschen kennenlernst.
4) Hast du irgendwelche anderen Interessen/Hobbys? Was macht dir Spaß? Was würdest du gern tun, woran dich deine Krankheit womöglich aktuell hindert? Versuche, hier mutig zu sein und es trotzdem zu tun, auch wenn du dich lieber verstecken würdest. Das ist mitunter echt schwer! Aber nur, indem du dich diesen Situationen schrittweise stellst, kannst du über dich hinauswachsen!
Ich wünsche dir alles alles Gute und drücke dir die Daumen, dass auch du eines Tages behaupten kannst, gesund zu sein! Und weil ich es nicht oft genug sagen kann, sag ich es an dieser Stelle noch einmal: Dein Aussehen ist NICHT dein Problem.
LG