Hallo Aljona,
ich lese schon ein Weilchen hier mit und hab mich jetzt angemeldet, um dir direkt antworten zu können. Denn es tut weh, wie du dich quälst. Du siehst einen netten umgänglichen Herrn und verstehst nicht, dass seine Demenz im Vordergrund steht, nicht eine freie Entscheidung eines lieben alten galanten Herrn, mit dir Kontakt zu suchen. Laut deinen Berichten klammert er sich doch an jeden, der ihm gut zuredet und ihn bestätigt. Ja, die Frau war beim Essen dabei etc. Das will er verzweifelt hören, obwohl er selbst weiß, dass es nicht stimmt, glaub mir. Denn dann wäre die Frau ja da, wo sie die letzten Jahre des Ehelebens eben war, an seiner Seite, und nicht plötzlich praktisch unsichtbar und auf der Flucht. Und das verwirrt ihn wiederum noch mehr, wenn A das sagt, B das und C von gar nichts weiß und schnell davonhuscht.
Was ich sagen will ist, dass ein Demenzkranker auch ein Stückweit nur versucht, sein Leben wieder zusammenzukriegen und fragt und fragt und fragt. Ich finde es nicht hilfreich, jede Diskussion und Erklärung zu vermeiden und zu sagen, was er hören will und jeder erzählt was anders, damit Ruhe herrscht.
Meine Mutter zum Beispiel hat mir während ihres Heimaufenthalts bei jedem verdammten Treffen Löcher in den Bauch gefragt, was ihre verstorbenen Verwandten machen. Sie fragte ausnahmslos nur nach den Verstorbenen, nicht nach den Lebenden. Die waren keines Gesprächs wert. Ich habe es ihr gesagt, während mein Bruder meist nur sagte, denen geht es allen gut, die lassen grüßen usw. Denn dann lautet die logische nächste Frage: Wann kommen die mich denn mal besuchen? Muss der Papa (seit 55 Jahren tot) immer noch so schwer arbeiten? Und das kam, so verwirrt war sie nie bis zu ihrem Tod. Für mich war das auch ein Stückweit Ernstnehmen der Person. Nicht Validation, wie mir auch geraten wurde = "Heiii, da geht es dir bestimmt ganz schlecht damit, dass du das nicht weißt, da bist du bestimmt ganz traurig und es verwirrt dich, komm wir machen einen schönen Spaziergang..." Das macht mich nur wütend. Wenn gefragt wird, sollten Antworten kommen, auch wenn dieselben Fragen nach 10 Minuten wieder kommen. Dass meine Mutter mich immer wieder fragte und meinen Bruder irgendwann nicht mehr, bestätigt mich eigentlich nur darin. Denn ich habe ihr dann davon erzählt.
Ich bin kein Demenzprofi, sondern ich habe nur bis zu ihrem Tod versucht, meine demente Mutter zu versorgen, die letzten anderthalb Jahre lebte sie im Heim, denn es war schlicht zuhause nicht mehr möglich. Aber glaub mir, sehr viele Menschen waren arg erstaunt, als ich ihnen sagte, sie ist wegen Demenz im Heim. Sogar Hilfskräfte dort haben das abgetan und behauptet, doch ganz normal mit ihr kommunizieren zu können. Ja,soweit ich das mit meiner Mutter erlebt habe, halten sich Demenzkranke sehr lange an eingefahrenen Verhaltensweisen und Strukturen fest und bauen eine regelrechte Fassade auf. Ich hab es bei meiner Mutter immer ihr Pokerface genannt. Es fielen gewohnte Sätze in gewohnten Situationen, sie konnte Witzchen machen und es klang alles ganz normal und stimmig. Aber die Inhalte wurden geschüttelt und gerührt und passten vorne und hinten nicht zur wirklichen Situation. Das merkt man wirklich nur, wenn man denjenigen und seine Geschichte eben kennt. Draußen auf der Straße war sie gut gekleidet und plauderte locker mit den Nachbarn - drinnen stand das Essen auf Rädern in der Küche, das sie regelmäßig vergaß zu essen und immer dünner wurde. "Aber ja, ich koche mir immer noch selbst, ein paar Kartöffelchen..." Eingekauft hat sie seit einem Jahr nicht mehr, sondern nur noch kaltes Essen aus dem Kühlschrank genommen und jeden Tag kam die Essenslieferung.
Aber ich schweife ab. Ich möchte dir eigentlich nur sagen, dass du unbedingt jetzt, nachdem du alles realisierst, sehr klar professionelle Distanz zu dem alten Herrn einhalten musst. Es fällt den Kollegen auf, dass du sehr oft zu ihm Kontakt hast, ihn leicht bevorzugst, ihm gefällig bist, weil du ihn magst. Und du stellst eine Beziehung her, die der alte Herr in seiner Einsamkeit natürlich genießt und forciert. Nun telefonierst du mit dem alten Herrn gemeinsam mit seiner Bank wegen einer EC-Karte. Vermutlich wird - wenn Demenz und daraufhin auch ein entsprechender Pflegegrad vorliegt und er nicht von selbst mit einem Köfferchen ins Heim umgezogen ist - doch die Tochter eine Bankvollmacht und vermutlich auch die gesetzliche Betreuung oder zumindest eine umfangreiche Vollmacht haben und von Merkwürdigkeiten dieser Art durch die Bank informiert (die wissen, wenn ein Betreuer da ist und reagieren zum Glück meist sehr aufmerksam). Rat mal, auf welche Gedanken die Tochter da kommt und dich hinterfragt, welche Funktion du eigentlich ausübst. So mancher ältere Mensch kommt nämlich auch auf die Idee, mit Geld ein wenig nachzuhelfen, damit die Leute etwas mehr Zeit opfern.
Aljona, auch wenn du noch nicht weißt, ob deine Stelle verlängert wirst, solltest du die Zeit jetzt aktiv nutzen, um dir Gedanken über deine berufliche Zukunft zu machen. Dasselbe in einem anderen Heim? Oder du siehst dich um, was dir mehr liegt und bewirbst dich aus deiner jetzigen Position aktiv raus. Auch wenn du die Verlängerung bekommst, sieht es nicht so aus, als wärst du da wirklich gut aufgehoben. Ich weiß nicht, wie alt du bist, aber womöglich sind es noch sehr viele Jahre bis zur Rente, wo du gucken musst, was DIR mehr liegt.
Ich wünsch dir viel Glück!