Oft entwickeln sich in Familien solche furchtbaren Dynamiken. Und auch dann, manchmal sogar grade dann, wenn alle eigentlich nur das Allerbeste wollten, entwickeln solche Strukturen ein Eigenleben und beginnen, die Familie in eine Richtung zu treiben, in die niemand treiben wollte. In deinem Wunsch, deine Mutter möge aus dem Leben treten, sehe ich eine ganz enorme Wut kondendensiert. Eine Wut, die wahrscheinlich daher kommt, dass du niemals die Erlaubnis hattest, wirklich offen zu sprechen und niemals Raum zum Ausdruck von Wut hattest. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass deine Mutter möglicherweise überfordert war mit ihrem eigenen Leben und eigentlich auch für dich immer eine gute Mutter sein wollte. Aber aufgrund der Begrenzungen ihrer eigenen Lebensgeschichte und ihrer Lebensumstände mag sie an ihre Grenzen gestoßen sein und vielleicht empfindet sie im Grunde tiefen Hass gegen sich selbst, da sie dir niemals die Mutter sein konnte, die du verdient hättest. Und diesem stillen, aber berechtigten Vorwurf sich selbst gegenüber kann sie vielleicht nicht aushalten, wenn sie mit dir zusammen ist.
Aus dem, was du bisher geschrieben hast, glaube ich zu lesen, dass du ein sehr geduldiger und gutmütiger Mensch bist, der eigentlich für alle Menschen das Beste möchte und für alle da sein will. Ich kann mir daher gut vorstellen, dass du möglicherweise auch deine Mutter damals nicht noch zusätzlich belasten wolltest. Und so hast du dir vielleicht all die kleinen Ärgernisse und die Wut immer wieder heruntergeschluckt, um deiner Mutter die Illusion nicht zu nehmen, doch eine gute Mutter zu sein. Auch wenn sie sich vielleicht entgegen deiner Bedürfnisse verhalten hat, musstest du doch immer glücklich wirken. So dass sie es wenigstens geschafft hat, ihre Tochter glücklich zu machen. Das ist grade bei depressiven Menschen eine sehr häufig zu findende Konstellation.
Natürlich stauen sich so im Laufe der Jahre in dir selbst gewaltige Aggressionen auf, die aber eigentlich nicht da sein dürften und die niemals den Raum bekommen, sich auszudrücken. Wie viel Kritik müsstest du heute eigentlich an deiner Mutter üben? Müsstest du ihr nicht eigentlich sagen, dass sie eine ganz furchtbare Mutter war und alles falsch gemacht hat? Vielleicht ist es genau dies, was die ganze Selbstdefinition deiner Mutter zum Einsturz bringen würde, vielleicht ahnt sie es aber auch längst und fürchtet sich nur vor dem Tag, wo sie tatsächlich mit der ganzen berechtigten Wut ihres Kindes konfrontiert wird. Und vielleicht ist genau dieses Dynamitfass der Grund, warum du in ihrer Gegenwart versteifst.
Des Weiteren schreibst du, dass du Sorge hast, dass du genau die selbe Dynamik an deinen Sohn weitergeben könntest. Und tatsächlich werden solche Konstellationen nicht selten über viele Generationen hinweg mit einer ungeheuren Macht weitergegeben. Und dabei ist es oft tatsächlich genau der Wunsch, diese Dynamik nicht weiterzuführen, was ihr das Leben verleiht. Da in der Familie bereits so viel kalter Hass besteht, wird Wut nicht geäußert. Weil man die Wut doch eigentlich aus der Familie heraushaben möchte. Aber grade damit erschafft man im Schatten dann einen Ozean aus Agression, der die Familie wie an zwei Ufern auf ewig voneinander zu trennen droht.
Was man tun müsste, um diese Dynamik stoppen zu können, wäre eine neue Umgangsform mit Wut zu lernen. Zum einen gilt es, die Wut und die Kritik der Anderen (deines Sohnes) aushalten zu lernen und gleichzeitig seine Wut endlich in einer Weise zu äußern, dass sie nicht so destruktiv ist. Du könntest deiner Muttter zum Beispiel etwas sagen, dass in etwa so klingt: "Ich weiß, dass du eigentlich immer dein bestes gegeben hast. Und ich weiß auch, dass du in einer Situation stecktest, die dich an deine Grenzen gebracht und dich restlos überfordert hat. Ich kann sehen, dass das alles nicht deine alleinige Schuld war, sondern an den Lebensumständen lag, und das respektiere ich. Dennoch empfinde ich eine enorme Wut dir gegenüber für all die Dinge, die du mir hättest geben müssen aber nie gegeben hast! Auch wenn ich weiß, dass du nie etwas Böses wolltest, habe ich trotzdem das Recht, auf dich wütend zu sein und nun muss ich dich einmal in aller Schärfe kritisieren. Ich habe immer so getan, als wärst du eine großartige Mutter, weil ich dich nicht leiden sehen und dich nicht verletzen wollte. Aber ich kann damit nicht länger leben und muss dir die Wahrheit sagen. Und auch wenn es dir im Moment den Boden unter den Füßen wegzieht, dass müssen wir jetzt einmal gemeinsam aushalten! Es gibt so viel, was mich tief verletzt und enttäuscht hat... "
Ob du all das deiner echten Mutter sagen kannst und möchtest, weiß ich natürlich nicht. Aber vielleicht hilft es, wenn du mit der Mutter deiner Kindheit ein inneres Gespräch beginnst. Denn die Mutter deiner Kindheit ist ein in dir selbst gespeichertes Bild aus den Erfahrungen, die deine Mutter in deinem damaligen Erleben verkörpert hat. Das muss mit deiner heutigen Mutter nicht mehr viel zu tun haben.