Ich will noch mal die Sicht der Zuspätkommerin zeigen. Ich weiß, daß bei dem anderen das Gefühl mangelnder Wertschätzung ankommt. Und das tut mir unendlich leid, weil es nicht mangelnde Wertschätzung ist.
Ich verstehe auch, daß es für Menschen, die pünktlich sein können, einfach kaum nachvollziehbar ist, warum dem Zuspätkommer trotz aller Mühe das nicht gelingt. ich verstehe, daß die Pünktlichen dann mit viel Unverständnis reagieren. Und Unglaube, wenn der andere versichert, er hat sich bemüht, aber es klappt nicht.
Ich kann aber versichern, das gibt es tatsächlich. Ich bin selbst sehr unglücklich, daß es mir nicht gelingt pünktlich zu sein. Ich gerate auch immer wieder in große Schwierigkeiten dadurch. In der Schule schon immer Schimpfe von den Lehrern, weil ich erst zur 2. Stunde da war. Auf der Arbeit immer wieder Probleme. Selbst beim Besprechungstermin mit dem Geschäftsführer komme ich zu spät angehechelt. Kurse beginnen - zu Recht wie Rainer richtigerweise sagt - ohne mich. Termine werden vergessen, Züge verpaßt.
Der Grund ist komplett mangelndes Zeitgefühl in Verbindung mit einer unrealistischen Einschätzung und einem optimistischen Gefühl, das klappt schon. Und ich merke auch einfach zu spät, wann der Punkt von "ich liege gut in der Zeit" zu "ich werde es nicht mehr pünktlich schaffen" wechselt. Außerdem vergesse ich einfach das, was sonst noch so ansteht, bei dem was ich gerade tue. Ich bin immer sehr in dem vertieft, was ich tue. Selbst ins Nichtstun und Gedankenschweifenlassen. Dabei geraten Termine tatsächlich aus dem Blick. Es fällt mir zu spät wieder ein, daß ich ja los muß. Und dann ist die Ausgangsposition, um es noch pünktlich zu schaffen schon sehr schlecht. Und dazu kommen immer wieder Situationen - vor allem morgens nach dem Aufstehen -, wo ich wirklich nicht weiß, was ich in der Zeit gemacht habe. Wo die Zeit vergeht, ohne daß ich irgendeine Erinnerung daran habe. Sie ist einfach weg die doofe Zeit. Durch die Finger geronnen. Vergangen. Manchmal macht es mir auch Angst, wenn die Zeit weg ist und ich nicht weiß, warum und mich nicht erinnern kann, was ich in der Zeit getan habe.
Ich möchte einfach den Pünktlichen sagen: Denkt nicht, es hat irgendwas mit Euch zu tun. Es ist einfach nur das eigene Unvermögen. Und fast alle Unpünktlichen, die ich kenne, leiden sehr unter ihrem Unvermögen. Und wollen nicht, daß andere sich ihretwegen schlecht fühlen. Und wollen niemanden warten lassen.
Ich habe großes Verständnis, wenn jemand einfach geht und nicht wartet.
Ich bin aber auch sehr dankbar, daß meine Umgebung, meine Freunde und Kollegen, aber auch meine Vorgesetzten mich nicht fallenlassen. Sondern erkennen, daß es einfach nicht klappt, auch wenn sie es nicht nachvollziehen können. Meine Freunde sind darin glücklicherweise Bergsteigerin sehr ähnlich und freuen sich trotzdem über die gemeinsam verbrachte Zeit. Meine Vorgesetzten haben einfach meinen Gleitzeitrahmen großzügig verändert.
Ich selbst hadere sicher am meisten mit meinem Unvermögen. Aber haben nicht die meisten Menschen irgendwelche negativen Eigenschaften, die sie einfach nicht in den Griff bekommen und die trotz aller Bemühung immer wieder zum Vorschein kommen?